Ich wusste nicht, wieso es mich gerade hierher gezogen hatte. War es das Rauschen der Wasserfälle oder einfach nur Zufall? Die Wasserfälle waren so laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht hören konnte, was mich beruhigte, denn ich hatte keine Gedanken und so fiel mir das nicht auf. Ich sprang von Felsen zu Felsen über den Fluss. Über mir stürzte der gleißende Strom in die Tiefe. Wasserspritzer verfingen sich in meinem dunkelgrauen Fell. Ich wollte so nahe wie möglich an einen der Wasserfälle. Ich sprang auf einen weiteren größeren Stein, der aus dem Wasser ragte und stand nun direkt vor einem riesigen Wasservorhang. Das Rauschen war ohrenbetäubend laut und dennoch hörte ich meinen Herzschlag in meinen Ohren. Es schlug schnell. Ob es war, weil ich den ganzen Weg bis hierher gesprintet war oder aufgrund der Nachricht, die Lyv mir überbracht hatte, konnte ich nicht sagen. Naila... Meine Beine zitterten von der Anstrengung und dennoch verspürte ich Energie in mir. Energie, die unbedingt raus musste, aber wohin? Mit einem Sprung drehte ich mich herum, sodass ich nun den Wald ansah und der Wasserfall hinter mit tobte. Ein lauten unwölfisches Heulen verließ meine Kehle. Ein lauter verzweifelter langer Laut, den ich ohne mich zurückzuhalten in den Wald hineinschrie.
Auf meinem Weg hierhin umging ich alle potenziellen Wölfe. Am großen Lachsfluss tummelten sich einige, weshalb ich bis zu den Felsenfällen lief. Ob es wirklich nur die Wölfe waren oder ob ich diesen Ort aufsuchte, weil Kori und ich uns hier das erste Mal trafen? Genau wusste ich es selber nicht. Ich bekam Gänsehaut, als ich es mir vorstellte: Ich rutschte den Hang hinab und auf einmal Stand sie vor mir. Früher war ich ein ganz anderer Wolf. Ziemlich unangenehme Erinnerung, mich wunderte es, wieso sie sich überhaupt auf mich einließ. Ich schob meine Erinnerungen beiseite und nährte mich dem Wasser. Mein Körper war schon jetzt von der kurzen Strecke schlapp und ich konnte es kaum erwarten, bis ich endlich wieder mehr Kraft haben würde. Meine nächste Herausforderung würde es wohl werden, einen Fisch aus dem Fluss zu fangen. Aber ich hasste Fische. Sobald man einen erwischt hatte, schlug er wild um sich und an den Gräten konnte man sich nur verschlucken. Lecker war das Fleisch auch nicht. Der Gedanke an Fisch machte mich ganz wütend und so starrte ich schon jetzt mit purem Hass die Wasseroberfläche an. Doch mein kleiner Wutanfall wurde von etwas unterbrochen. Ein lautes und trauriges Heulen. Erst jetzt erspähte ich den grau-braunen Wolf vor dem Wasserfall. Er sah kräftig und groß aus, so wie ich damals, doch nun musste ich aussehen wie ein Skelett. Am liebsten wollte ich mich direkt wieder verkriechen. Ich wollte aber nicht.. nicht erneut. Er stand mitten im Fluss auf einen Stein, ich hatte keinen blassen Schimmer, wie er es dahin geschafft hatte, aber hinterher springen schien mir zu gefährlich. Gefährlich schien mir aber auch, wie nah er dem Wasserfall war. „Alles okay bei dir?“, rief ich ihm zu, doch ich bezweifelte, dass er mich hören würde. „Das ist ganz schön gefährlich da, weißt du?!“, alarmierte ich ihn und suchte eine flache Stelle, um zu ihn zu kommen, aber der einzige Weg waren die Steine. Ich versuchte auf einen Stein nahe der Wasserkante zu hopsen, aber schaffte es grade mal mit den Vorderpfoten rauf, während die Hinterbeine noch auf festem Boden standen. „Willst du da lieber wegkommen?“, rief ich ihm ein letztes Mal zu, in der Hoffnung, dass er mich überhaupt irgendwie bemerken würde, selbst wenn es nur an der komischen Eselsbrücke lag, die ich machte.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung war. Ich wandte den Kopf und sah zu einem Rüden, der zu mir hoch sah. Er rief mir etwas zu, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Das Rauschen des Wassers war viel zu laut. Er war alt. Vielleicht genauso alt wie ich, doch er hatte eine andere Statur. Im Gegensatz zu meinem großen massigen Körper, schien er eher hager zu sein, was mich ein wenig beunruhigte, denn er schien zu mir kommen zu wollen. Allerdings zweifelte ich daran, dass der Rüde es bis hier schaffen würde. In meiner Verzweiflung hatte ich ziemlich große Sprünge gewagt und der tosende Wasserfall wurde mir erst jetzt wieder richtig bewusst. "Geh nicht weiter!", rief ich ihm zu. "Es ist alles okay!" Auf keinen Fall wollte ich, dass der Rüde sich irgendwie verletzte. Und das auch noch meinetwegen.
Der Rüde bemerkte mich endlich und hechtete viel zu schnell über die Steine. Irgendwie hatte ich damit wohl das Gegenteil von dem bewirkt, als ich wollte. "Oh! Pass bloß auf!", rief ich zurück und bei einigen seiner Sprünge blieb mir die Luft weg. Aber auch für mich war es jetzt an der Zeit, mich wieder in Sicherheit zu begeben. Ich versuchte mit einem Hinterbein auf den Fels, auf dem meine Vorderpfoten standen, zu kommen, aber ich war nicht gelenkig genug. Dann versuchte ich mit einer Vorderpfote nach hinten auf den Boden zu gelangen, aber auch das klappte nicht. "Oh nein! Ich stecke fest!", brüllte ich panisch und versuchte zu springen, aber ich hatte Angst vor dem tiefen eisigen Nass, welches zwischen Fels und Ufer lag. Mein Springen endete in leichten Hopsern, die nichts bewirkten, außer vielleicht den Boden aufzulockern. Ängstlich blickte ich langsam nach unten. In meinem inneren Auge stellte ich mir einen schnellen, reißerischen Fluss vor, der alles mit sich reißt, was auch nur annähernd in seine Nähe kommt. Doch als ich endlich den Blick darauf richtete, was unter mir lag, atmete ich erleichtern auf. Der Fluss zwischen Fels und Ufer war langsam und so flach, dass selbst ein Tannenzapfen darin nur langsam vorankam und über den Boden scharrte. "Alles gut, ich hab übertrieb...", wollte ich dem Rüden noch zurufen, doch im gleichen Moment rutschte ich mit der Vorderpfote von der Felskante und mit dem Rücken voran ins kalte Nass. Der Tannenzapfen pickste mich ebenfalls aus Rache in den Rücken, dafür, dass ich meinen Körper rücksichtlos auf ihn geworfen habe. Durchnässt und misshandelt raffte ich mich wieder auf und ging wieder an Land. "Ich glaube, jetzt ist alles gut!", beendete ich meinen angefangenen Satz wehleidig und schüttelte mich einmal kräftig. Dann sah ich wieder zum Rüden und beobachtete, was er während meiner Nahtot-Erfahrung trieb.
Ich beobachtete den Rüden und sprang von Felsen zu Felsen zurück. Am reißenden Wasser vorbei. Die Rufe des Rüden waren wie eine Achterbahnfahrt. Er schien nicht ganz bei sich zu sein. Als er ins Wasser fiel und sich dann letztendlich an Land rettete, hatte ich das Ufer ebenfalls erreicht. "Geht es dir gut?", fragte ich besorgt. Bei dem ganzen Durcheinander war ich mir nicht mehr sicher, ob er sich nicht vielleicht doch etwas getan haben könnte.
Ich war beruhigt, als der Rüde ebenfalls wieder festen Boden betrat. Der Schmerz vom Tannenzapfen pochte in meinem Rücken, aber nach einem Blick nach hinten sah es nach keiner sichtbaren Wunde aus. Normalerweise würde ich dem Rüden sagen, dass meine Muskeln so massiv sind, dass nichts mich zum Bluten bringen könnte, aber ich musste mir eingestehen, dass das nun nicht mehr der Fall war. "Gesund und Munter.", erwiderte ich, obwohl das Munter halb gelogen war. "Was trieb dich dazu, so nah an den Wasserfall zu gehen?", fragte ich den Rüden anschließend. "Etwa eine verlorene Wette?", hakte ich mit einem Grinsen hinterher. Erst jetzt, wo er so nah bei mir stand, hatte ich diesen sonderbaren Geruch in der Nase. Eine alte Erinnerung kam in mir hoch. Ich hatte nie sonderlich viel mit den Rudeln zu tun, dass zuordnen fiel mir auch schwer, aber einmal war ich auf deren Rudelplatz. Ob ich ihm dort begegnet war? Ich war mir unsicher. Wahrscheinlich müssen seit dem Jahre vergangen sein.
Ich musterte ihn, wie er mich. Habe ich ihn schon einmal getroffen? Ich hoffte das nicht. Es wäre unfair, sich nicht an seinen Namen zu erinnern. Glücklicherweise schien er allerdings auch meinen Namen nicht zu kennen. Vielleicht waren wir uns doch noch nie begegnet. Auf seine Frage hin, drehte ich mich kurz zu dem Wasserfall. Ich war wirklich nahe dran gewesen. Verlorene Wette? Ich schluckte kurz und sah wieder zu dem Rüden. "Nein", sagte ich dann. "Ich habe etwas anderes verloren." Meine Stimme klang brüchig und ich räusperte mich schnell. "Und was machst du hier?"
Ich bereute es allmählich, behauptet zu haben, dass er wegen einer Wette hier war. Es schien etwas Schlimmeres gewesen zu sein, als das. Somit erlosch mein Grinsen auch sofort und ich beantwortete seine Frage: "Ich wollte ein paar Fische fangen. Onos und ich bräuchten dringend was zwischen die Zähne." Mein Blick ging wieder zum Fluss. Ich versuchte an der Wasseroberfläche Bewegungen zu erkennen, die nur von Fischen kommen konnte, aber der Fluss war zu stürmisch, um etwas sehen zu können. Somit ging mein Blick wieder zum Rüden.
Ich musterte ihn. "Wenn du weiter flussabwärts gehst, kommst du zum großen Lachsfluss. Hier oben ist etwas weniger", schlug ich ihm vor. Ich fragte nicht nach, wer Onos war. Meine Gedanken kehrten wieder zu meinem Rudel zurück.
Als er mit seinen Augen über mich ging, wurde mir etwas unwohl. So schwächlich sollte mich eigentlich keiner sehen. "Danke für den Ratschlag, aber..", bedankte ich mich, aber meine Gründe, warum ich nicht dort die Fische fange, wollte ich nicht direkt zugeben. "Ich gucks mir mal an.", beendete ich meinen angefangenen Satz. Ich hoffte weiterhin, dass ich hier genug finden würde. "Darf ich dich fragen, zu welchem Rudel du gehörst?", fragte ich ihn anschließend, als meine Neugier überwog. Gleichzeitig betete ich zu Luna, dass er nicht Bergwölfe sagen würde. Ich würde ihnen Koris tot noch mitteilen, aber nicht heute.
Ich stellte die Ohren aufmerksam auf. "Zu den Silberwölfen", sagte ich dann. Ich hatte gerade kein Interesse daran mich als Alpha erkennen zu geben. "Gehörst du auch zu einem Rudel?" Die Frage war überflüssig, denn es war kein mir bekannter Geruch. Allerdings hatte er von einem "Onos" geredet. Vielleicht hatte sich wieder ein neues Rudel gebildet.
Als er sein Rudel nannte, atmete ich erleichtert aus. Trotzdem versuchte ich mir seinen Geruch für die Zukunft zu merken. Wer weiß, vielleicht würde ich mich eines Tages doch noch einem Rudel anschließen wollen und spätestens dann müsste ich mit ihren Namen und Gerüchen vertraut sein. "Nein, ich bin Rudellos. Derzeit würde ich die Rauschhöhle als mein zu Hause bezeichnen.", entgegnete ich, obwohl ich nicht wusste, ob ich ohne Kori dort weiterleben wollte. Die Höhle war immer gut besucht, weshalb ich davon ausging, dass er sie vielleicht auch kannte.
"Ah", machte ich. Ich war schon einmal dort gewesen, doch hatte nie besonders viel mit den Wölfen dort zu tun hat. "Dann kennst du sicher Basta", sagte ich, einfach nur um ihm zu zeigen, dass ich den Ort kannte. Allerdings war Basta dafür ein doofes Beispiel. Jeder Wolf kannte Basta. Trotzdem mochte ich den Rüden vor mir. Er verbreitete eine angenehme Stimmung, die mich an Familie erinnerte.
Basta! Als ich den Namen hörte, begann ich sofort zu grinsen und mit der Rute zu wedeln. Auch wenn er einer der nervigsten Wölfe im Tal war, vermisste ich den Wirbelsturm irgendwie. Immerhin muss unser letztes Treffen ewig her gewesen sein. Ich nahm mir vor, ihn wieder zu treffen, sobald ich meinen Emotionen mehr im Schach halten konnte. "Natürlich. Basta verbreitet also noch immer Chaos unter den Wölfen?", sagte ich und lachte.
Wolfsrudel - Das Leben der fünf Rudel
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09.10.2022 16:00
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