Flora :

Ich hatte um mich herum nach einer Weile nichts mehr mitbekommen. Nun wurde ich wach, das große etwas fehlte!! Ein komisches Gefühl überkam mich und ich stieß muckend wenn auch nicht mit Absicht das kleine neben mir an, vielleicht wusste das ja mehr!? Ich muckte missbilligend weiter bis ich einfach beschloss alleine zu suchen und mich hin und her ...schaukelte. Ich wollte alles um mich herum entdecken und das große Ding finden, wieso war es nicht da?

Ich erforschte die wunderschöne Berglandschaft und ließ mir den frischen Wind um die Nase wehen.
Immer wieder entdeckte ich neue Aussichtsfelsen, von denen ich in die unten liegenden Täler und Schluchten spähen konnte.
Ich entdeckte eine Gemse am Fuße eines Berghangs. Sie war wohl von einer Gerölllawine mitgerissen worden und so in den Tod getrieben worden. Ein Adler saß auf dem toten Tier und pickte daran herum.
Ein Stückchen weiter waren weitere Felsspalten. Ich roch Wasser und - da war unverkennbar der Geruch einer Fähe. Ich folgte dieser Fährte.

Kurze Zeit später sah ich sie. Es war eine hübsche stattliche Fähe mit einem schön gezeichneten Fell, das allerdings im Moment ein wenig zerzaust aussah. Überhaupt wirkte die Fähe erschöpft und ich hatte selbst genug Strapazen erlebt, um die Anzeichen von Entbehrung an anderen Wölfen zu erkennen. Die Fähe sah entkräftet aus - und halb verhungert.
Warum nur? Hier gibt es doch überall so gute Beute?
Dann roch ich die Welpen. Das ergab Sinn.
Aber wo war ihr Gefährte? Sicherlich auf der Jagd.
Ich beschloß sie anzusprechen.
Sei gegrüßt, ehrenwerte Mutter! Respektvoll neigte ich meinen Kopf.
Ich bin Odhran und auf der Durchreise. Lebst du hier in diesen schönen Bergen?

Ich hörte das protestierende Mucken von Flora, doch außer einem Zucken meiner Ohren schenkte ich dem mal ausnahmsweise keine Beachtung. Viel zu sehr war ich in der wohltuenden Ruhe gefangen, die mich plötzlich umgab, doch verbot ich mir in einen dösenden Zustand zu verfallen. Ich musste wachsam bleiben. Und dies scheinbar nicht grundlos, denn keine paar Minuten später erblickte ich einen Rüden - der genau auf mich zukam. Der Geruch, der mich letztendlich aus der Höhle getrieben hatte, gehörte zu ihm, wie ich nun feststellte. Eilig rappelte ich mich auf und sträubte das Fell, während ich ihn misstrauisch beobachtete. Seine Anrede jedoch haute mich regelrecht aus den Socken. Mutter? Er weiß es? Sofort schalt ich mir meine Unaufmerksamkeit, doch nun war es zu spät. Mein Nackenfell legte sich etwas, meine geduckte Haltung hielt ich dennoch. Ja, gab ich auf seine Frage hin zu und drehte für den Bruchteil einer Sekunde erschöpft die Ohren zurück. Warum willst du das wissen? Die Angst um meine Welpen nahm wieder Überhand. Offenbar wurde ich durch Nikais Tod allmählich paranoid, doch das bemerkte ich in meinem Zustand überhaupt nicht.

Sie war mißtrauisch und angespannt. Ihre ganze Körperhaltung verriet ihre Unsicherheit und - vielleicht auch ein wenig Angst. Damit hatte ich nicht gerechnet, mit dem Mißtrauen schon - aber das andere?
Eine Mutter mit Welpen sollte stark sein und sich im Rudel und mit ihrem Gefährten sicher fühlen.
Irgendwas war hier falsch.
Hab´keine Angst, ich bin allein und tue dir nichts - und deinen Welpen erst recht nicht! sagte ich freundlich.
Wenn ich dich zu sehr störe, werde ich auch gleich weiterziehen und dich in Ruhe lassen, wenn du es willst.
Aber, fügte ich hinzu, wie ich sehe, geht es dir nicht besonders gut.
Wo ist dein Rudel oder dein Gefährte?

Mein Herz hämmerte wie verrückt in meiner Brust, als ich den Rüden angespannt anstarrte und nur einen Schritt davon entfernt war, ihn anzugreifen. Seine freundlichen Worte beruhigten mich ein wenig, aber nicht genug um mich zu entspannen. Auf seine Frage hin, drehte ich die Ohren gequält zur Seite. Er ist tot, gestand ich leise und blickte auf die Erde. Und mein Rudel habe ich vor einem halben Jahr verlassen. Schmerzlich erinnerte ich mich an Morgana und Noriko, doch hielt ich den Schmerz aus. So wie immer. Fragend sah ich nun den Rüden an. Wohin läufst du? Hast du ein Ziel? Ich wusste nicht ganz warum ich so redselig wurde, doch das war mir auch egal. Hauptsache, er geht nicht zu Niak und Flora.

Der Gefährte tot ?! Kein Rudel ?! Oh je, das ist schlimm! Welche Chance haben denn da die Welpen?
Ich bemühte mich meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber das hier war wirklich schlimm.
Mir tat diese Fähe unendlich leid. Aber sie war trotz ihrer verzweifelten Lage mutig und stolz. Das imponierte mir und ich wollte sie nicht kränken. Jetzt war mir auch klar, warum sie so heruntergekommen aussah.
Niemand jagte für sie und niemand beschützte sie und ihre Welpen.
Ich überlegte, was ich da tun konnte. Dann hatte ich eine Idee.
Ja, ich habe ein Ziel! sagte ich leichthin.
Warte einen Moment hier. Ich bin gleich zurück.
Dann sprang ich davon und eilte dorthin, wo ich vorhin noch die tote Gemse gesehen hatte.
Sie war noch da und der Adler ebenfalls. Er hatte wohl genug gefressen und erhob sich mit raschem Flügelschlag, als er mich herbeieilen sah.
Ich warf einen kurzen Blick auf die Beute. Die Eingeweide und die Augen fehlten, aber sonst war sie noch gut erhalten und frisch. Dann packte ich den Kletterkünstler und schleppte ihn zu der Fähe.
Hier, sagte ich zu ihr. Du brauchst Nahrung, sonst können deine Welpen nicht überleben!
Diese Worte sprach ich im ernsthaften Tonfall des Kriegers, der keinen Zweifel aufkommen ließ. Ich wollte nicht Gefahr laufen, dass sie das Angebot ausschlug.

Irritiert sah ich dem Rüden nach, war im ersten Moment enttäuscht, dass er wieder ging, doch im nächsten Moment nickte ich. Besser so, murmelte ich und wollte mich bereits wieder in die Höhle zurückziehen, da hörte ich hinter mir verdächtige Geräusche und drehte mich wieder um. Der Rüde von eben - Odhran, oder so. - kehrte mit einem Kadaver zurück. Er legte ihn vor mir ab und bot ihn mir an. Ich sah ungläubig zwischen ihm und der toten Gemse umher, wollte bereits den Kopf schütteln, doch er brachte sehr überzeugende Argumente. Jede Faser in mir sehnte sich nach dem verlockenden Fleisch, doch gleichzeitig weigerte sich mein Stolz dieses Angebot anzunehmen. Aber...ich kann doch nicht..., probierte ich einen Einwand, merkte aber rasch, dass ich für eine Diskussion einfach zu erschöpft war. Also murmelte ich ein leises "Danke", warf meinen Stolz mehr oder minder über den Haufen und schnupperte vorsichtig am zerrupften Fleisch. Es schien noch einigermaßen frisch und so drückte ich meine Pfote vorsichtig in die klaffende Wunde um mit den Zähnen ein Stück Fleisch zu erhaschen und rauszureißen. Mit dem Fleisch im Maul sah ich anschließend zu dem Rüden auf. Warum tust du das? Die Frage brannte mir regelrecht unter den Krallen.

Ich sah zu, wie die Fähe zuerst zögerte, aber dann das Fleisch annahm.
Gut so, brummte ich befriedigt. Um der Fähe weiteren Stress zu ersparen, wandte ich mich ab.
Ich bleibe vorerst in der Nähe, solltest du wissen, sagte ich. Die Berge gefallen mir. Vielleicht sehe ich später mal wieder nach dir.
Dann lief ich davon und tiefer ins Gebirge hinein. Ich wollte die Fähe nicht weiter in Verlegenheit bringen, aber meine letzten Worte sollten ihr mitteilen, dass ich ein Auge auf sie haben werde.
Schutzlos und allein mit Welpen! Ich schüttelte den Kopf und sprang davon.

Eine richtige Antwort erhielt ich nicht, doch das war mir auch nicht wichtig. Zaghaft nickte ich und sah dem Rüden anschließend nachdenklich nach. Es existieren noch gute Wölfe, dachte ich und schüttelte bei diesem Gedanken entrüstet den Kopf. Was war nur aus mir geworden? Hatte die Höhle mich denn wirklich so sehr verändert, dass ich niemanden mehr über den Weg traute? Seufzend packte ich das linke Hinterbein der Gemse mit meinen Zähnen und zog sie ein Stück näher an den Spalt, ehe ich mich niederlegte und die Beute richtig vertilgte. Jetzt, wo der Rüde weg war, ging es mir schon etwas besser. Dennoch hatte ich meine Welpen auch nicht vergessen und als ich einigermaßen gesättigt war, schob ich den restlichen Kadaver von der Höhle weg und kletterte wieder in die Höhle. Dort angekommen leckte ich jedem meiner Kleinen beruhigend über den Kopf, ehe ich mich niederlegte und sie an meinen Bauch zog. Jetzt seid ihr dran, murmelte ich leise und beobachtete sie beim trinken.

Ich sprang davon, immer noch irritiert von dem, was ich eben gesehen und gehört hatte. Der Mut und der Stolz der Fähe hatte mich beeindruckt.
Wäre ich damals nur so mutig gewesen, als mein Vater meine Geliebte verjagt hatte!
Was geschehen war, war geschehen. Ich konnte es nicht wieder gutmachen, aber der Fähe konnte ich vielleicht helfen. Ich war ein guter Jäger. Ich konnte ihr gelegentlich Beute bringen. Sie würde sie nicht annehmen, wenn sie wüßte, dass ich Bradwr war, ein Verräter. Aber das würde ich ihr auch nicht sagen. Ich machte ohnehin nicht gerne viele Worte, wenn sie nicht dem Brauch oder der Höflichkeit entsprachen.
Die Berge waren schön. Der harte Fels gab mir Sicherheit.

Den ganzen Tag lief ich durch die Berge und erkundete sie. Überall gab es etwas zu sehen und überall sah alles anders aus. Es gab scheinbar viele Wölfe im Gebiet, aber hier in den Bergen herrschte Ruhe. Ich traf keinen anderen Wolf und nur einmal vernahm ich einen schwachen Geruch, dem ich folgte. Er kam von einer Reviermarkierung am Rande einer Schlucht, war aber schon alt. Wölfe waren weit und breit nicht zu sehen. Ich beschloß die Reviermarkierung trotzdem zu achten. Schließlich war genug Platz hier oben in den Bergen und ich wollte keinen Streit.
Die Dämmerung kam und ging, machte der Nacht Platz und dem Sternenhimmel, den ich bestaunte, während ich auf einem kleinen Plateau einen hochgelegenen, wenn auch windigen Ruheplatz gefunden hatte. Doch der Wind machte mir nichts aus. Ich mochte ihn.

Irgendwann schlief ich ein und als ich erwachte erlebte ich einen herrlichen Sonnenaufgang in den Bergen. Der Himmel war bewölkt und Regen stand bevor, so dass sich das Licht der aufgehenden Sonne malerisch mit den Wolken vermischte und eine farbenprächtige Mischung aus gelben, orangefarbenen und rotem Lichtfiguren an den Himmel zauberte.
Die Vogelwelt erwachte und der reine unverwechselbare Klang der Bergnachtigall erfreute mein Herz. Ich lauschte diesem Loblied an den Morgen und dankte der großen Wolfsmutter für das Versprechen eines schönen Tages.
Dann sah ich mich um. Überall um mich herum waren die Berge und ihre Gipfel ragten in den Morgenhimmel. In der Ferne sah ich einen besonders beeindruckenden Gipfel, der alle anderen überragte. Obwohl es erst Herbst war, war er schneebedeckt.
Was man von dort erst eine Aussicht haben muss?
Schon reizte es mich zu erkunden, ob man dort wohl irgendwie hinaufgelangen konnte, aber dann fiel mir ein, dass ich ja dafür in das benachbarte Wolfsrevier eindringen musste und ich ließ meinen Kopf sinken.
In Frieden und im Einklang mit der Bergwelt war es leicht zu vergessen, wer man war.
Ich war eben nur ein nutzloser Streuner, ein Bradwr, ein Verräterwolf, der sein Rudel im Stich gelassen hatte.

Der Tag ging ins Land und ich erkundete weiter die Bergwelt. Mittlerweile regnete es, aber das störte mich nicht besonders. Der Wind frischte auf und trug den salzigen Geruch vom Meer ins Landesinnere. Diesen Geruch hatte ich schon als Welpe gemocht. Zum Meer war es nicht weit und ich fand leicht dorthin. Von der Gebirgshöhe aus blickte ich schon bald hinab auf eine Bucht mit einem schmalen Streifen Kieselstrand.
Ob es da Muscheln gab? Oder Krebse? Oder Austern?
Es gab schreiende Möwen, die schimpfend davonflogen, als ich zum Strand hinabeilte. Die Kiesel knirschten unter meinen Pfoten und kitzelten ein wenig.
Welle auf Welle schob sich das Meer auf den Strand und zog sich wieder zurück. Ich hatte Respekt vor dem Meer. Es schien friedlich und ruhig, aber das war trügerisch. Es hatte immer Hunger und war nicht sehr wählerisch dabei, wen oder was es verschlang.
Außer den Möwen gab es noch andere Seevögel. Weiter draußen im Meer sah ich sogar ein paar Papageientaucher, Lummen stürzten sich von einer hohen Klippe zum Fischfang hinunter und auf einem Felsvorsprung nistete eine kleine Kolonie Seeschwalben.
Da erhaschte ich eine Bewegung und sah eine schmackhaft aussehende Krabbe, die seitwärts über den Kies lief. Sie hatte eine ordentliche Größe und würde ein gutes Essen abgeben. Niall, mein Vater hatte mir beigebracht, wie man solche Krabben am besten knackt. Bei dieser Erinnerung verging mir der Appetit und lch ließ die Beute entkommen. Linkerpfote das Meer und rechterpfote die Berge lief ich den Strand entlang und umrundete die Bucht.

Kurz hinter der Bucht traten die Felsen wieder näher ans Meer, so dass es da keinen Strand mehr gab. Da machte ich mich landeinwärts auf den Weg wieder ins Gebirge und stellte bald fest, dass ich erneut den großen Berggipfel vor mir sah - dieses Mal jedoch aus einem anderen Blickwinkel.
Nach wie vor reizte es mich, dort hinauf zu gelangen, auch wenn es vermutlich ein hartes Stück Arbeit sein würde.
Dann fiel mir wieder ein, weshalb ich es schon beim ersten Gedanken verworfen hatte.
Da war doch eine Reviergrenze gewesen!
Bin ich jetzt vielleicht doch schon in das Revier des anderen Rudels eingedrungen?
Am Strand hatte ich nichts bemerkt, aber wahrscheinlich wurde dieser Weg selten benutzt und auch schon die andere Markierung war alt gewesen. Offenbar legte das Rudel nicht besonders viel Wert auf die genaue Kennzeichnung ihres Territoriums. Ich wusste es nicht.
Ich beschloss deshalb einfach weiter zu wandern, bis sich etwas Neues ergab.