Wieder einmal durchstreifte ich die umliegenden Gebiete auf der Suche nach etwas, das mich für den Moment festhalten würde. Bevor ich das Tal verließ, würde ich mit Sicherheit noch mal den großen Wasserfall besuchen. Vor meinem Inneren Auge zeichnete sich wieder das Bild dieses friedlichen Ortes ab. Was genau mich dort so hinzog wusste ich gar nicht, doch das war auch nicht nötig.
Jetzt aber befand ich mich in einer mir unbekannten Umgebung auf der Suche nach meine nächsten Mahlzeit.
Das war auch ein großes Plus für dieses "Tal", wie die Landschaft hier wohl von vielen genannt wurde — das abwechslungsreiche und beachtliche Nahrungsangebot. Hier hatte ich auch im Winter nicht hungern müssen.

Zwischen den Bäumen hindurch fiel mir ein hölzernes Gerüst auf, das nicht natürlich entstanden war. Menschen. Der Erfahrungswert sagte mir, dass das hier einer dieser Orte war, an denen die Menschen Jagd auf Wild und auch uns Wölfe machten. Obwohl ich keinen von ihnen wahrnehmen konnte, war es wohl nicht ratsam zu viel Zeit hier zu verbringen.
Ich blieb noch einen Moment lang stehen und sah mich um; dann machte ich auf der Stelle Kehrt und ging den selben Weg zurück, den ich gekommen war.

Keine zwei Schritte hatte ich geschafft, da schallte ein Rascheln, gefolgt von einem lauten Knacken und einem dumpfen Rumms durch den Wald.
War das ein Baum? Es hatte sich so angehört und das war an sich kein Grund zur Sorge. Bäume wurden alt und morsch. Dann reichte manchmal ein leichter Wind oder auch einfach die Zeit aus, um sie umstürzen zu lassen. Allerdings war es heute nicht sonderlich windig. Ich drehte mich aus Neugier nach der Quelle um, die in der Nähe des Jägerstandes zu liegen schien. Nein, kein Grund der Sache weiter auf den Grund zu gehen — ganz im Gegenteil sogar.

Ich beschloss also meinen Weg fortzusetzen, wurde aber sofort wieder aufgehalten. Diesmal von einem anziehenden Geruch, den die Luft zu mir trug. Stimmt... da war ja was. Ich hatte in der letzten Zeit wirklich wenig Kontakt zu anderen Wölfen gehabt. Dabei war ich in der Paarungszeit sogar recht gesellig. Logisch.
Als ich den Geruch genauer analysierte, fiel mir schließlich auf, dass mir die Wölfin sogar bekannt war und in diesem Kontext verhieß ein umgestürzter Baum nichts gutes.
Trotz der Gefahrenquelle in der Nähe verlor ich keine Sekunde und folgte der Fährte. Wenn sie in Gefahr war oder andere in Gefahr gebracht hatte, dann hatte auch ich keine Wahl als zu helfen. Egal wie dumm sie sich angestellt hatte.
Auf eine Rüge konnte sie sich trotzdem gefasst machen.

Ich hatte mich nicht geirrt: Nach einem flotten Trab gelangte ich an ein Gefälle und erblickte einen grau-braunen Körper unter einem umgestürzten Baum am Fuße der Böschung.
Mit einem Kopfschütteln und Augenrollen näherte ich mich der jungen Fähe, deren Name ich tatsächlich vergessen hatte: "Eine Glanzleistung." Sarkasmus pur.
Einige Wolfslängen vor ihr blieb ich stehen und schaute in gewohnt abschätziger Manier auf sie herab.

Ihr erfreuter Ausruf veranlasste mich zu einem warnenden Knurren. Spinnt die?
Natürlich würde ich ihr helfen. Auch wenn ich es genoss, dass sie mal wirklich in der Patsche saß. Schweigend beobachtete ich ihren Versuch sich zu befreien und schnaubte fast schon amüsiert. "Nur, wenn du deine Klappe hältst. Kein Jaulen, Heulen oder Winseln," erwiderte ich schließlich mit einem Blick nach oben in Richtung des Jägerstandes. "Und du musst mir zuerst erklären wie du dich in diese Situation gebracht hast." Ja, sie würde eine Lehre hieraus ziehen.
Bei unserer ersten Begegnung war sie unvorsichtig im Nebel herumgetollt und ich hatte sie zurechtgewiesen. Das hatte damals wohl nicht gefruchtet, aber vielleicht würde sie jetzt lernen.

Ich begann sie zu umrunden um sie und den umgestürzten Baum zu inspizieren um zu sehen wie genau ich ansetzten konnte.
So nah bei ihr war der für die Paarungszeit typische Duft noch intensiver. Es wunderte mich beinahe, dass ich ihn an ihr roch und es störte mich, dass ihr Duft mich so einlullte und meine Instinkte weckte. Sie war objektiv gesehen wohl eine ausgewachsene Wölfin, doch benahm sie sich wie ein Jungwolf. Unter normalen Umständen würde ich mich absolut nicht zu ihr hingezogen fühlen. Ganz klar.

Auf ihre patzige Antwort hin rollte ich mit den Augen und setzte mich erst noch einmal demonstrativ vor sie hin. ihre Bitte um Hilfe überging ich einfach: "Ach, und warum bist du die Böschung runtergefallen? Warte — Lass mich raten... Bestimmt hast du nicht darauf geachtet wo du hinläufst, oder bis absichtlich ausgelassen herumgesprungen oder hast dich von etwas Unwichtigem ablenken lassen. Genau wie du im Nebel unaufmerksam warst." sie hatte es verdient noch ein bisschen länger zu leiden.

Mit Genugtuung hörte ich mir ihre Erklärung an. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Ein schiefes Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, aber dann sah ich sie wieder ernst an. Ich konnte ihr Unbehagen deutlich spüren und vielleicht tat sie mir auch minimal leid. "Das Versprechen brauche ich gar nicht. Du sollst nur nicht dumm sein," erklärte ich knapp. Schließlich hatte ich nicht grundsätzlich etwas dagegen anderen zu helfen.
Seufzend begann ich die Erde um sie herum aufzubuddeln, was sich leichter gestaltete als gedacht. Offenbar war der Boden hier nicht mehr ganz so hart durch die Kälte. Zwar hätte ich lieber den Baum weggestemmt, da ich jetzt nicht mehr so viel zeit hier verplempern wollte, denn wir befanden uns noch immer in der Nähe des Jägerstandes, aber so stark war ich dann auch wieder nicht. Zudem bestünde die Gefahr, dass er verrutschte und sie noch mehr verletzte.
Hin und wieder kam ich ihr mit meiner Schnauze vielleicht doch etwas näher als nötig, aber mein Verstand war noch anwesend und verhinderte schlimmeres. Das ist ja beinahe peinlich...

Ja, bestimmt nicht... dachte ich mir innerlich, als sie mir versicherte, dass sie nicht dumm sei, und beließ es für den Moment dabei.
Sobald sie ihre Beine unter ihren Körper hervorziehen konnte und sich endlich aus der misslichen Lage befreite, hörte ich auf zu buddeln und nahm sofort genug Abstand ein, damit mein Kopf wieder klarer wurde. Die letzten Minuten waren ein Kampf gewesen.
Während sie sich den Baum noch mal genau ansah schien ihr der Ernst der Lage endlich vollends bewusst zu werden. Ja, es war knapp gewesen. Ja, der Baum hätte sie erschlagen können. Ja, ich hatte ihr leben gerettet, denn hier kam bestimmt selten irgendjemand hin. Ewig hätte sie ohne Nahrung nicht ausgehalten.
Diesmal nickte ich nur stumm. Ein zurechtweisender Kommentar meinerseits war hierzu nicht mehr nötig.

Ich hob eine Pfote um mich umzudrehen und zu gehen. Jetzt, wo die Gefahr gebannt war, wollte ich schleunigst aus dem Jagdgebiet abhauen und vorallem von dieser Versuchung weg. Nicht, dass ich Angst hatte, dass ich die Kontrolle verlieren würde, doch es war mir zunehmend unangenehm. In diesem Tal gab es eine Menge anderer Fähen, die keine Kinder in meinen Augen waren.
Plötzlich ging die Wölfin allerdings auf mich zu. Ich rechnete mit einem dankbaren Stupser; maximal damit, dass sie sich überschwänglich an mich drückte, denn irgendwie hatte sie wohl diesen Überschuss an Energie und Gefühlen; aber nicht DAMIT.
Entsetzen machte sich in meinem Gesicht breit — nur für eine Sekunde — dann wandelte es sich zu Wut. "Lass das! Was denkst du dir dabei?!" ich konnte es nicht fassen. Da bot mir dieses kleine Gör doch tatsächlich an, sich mit mir zu paaren! Sie war doch nichtmal alt genug dafür! "Doch, das ist sie. Sie wirkt nur nicht so," meldete sich meine Rationalität.
Ich knurrte die Kleine aggressiv an und baute mich zu meiner vollen Größe auf, die Zähen gebleckt. "Das machst du NIE WIEDER! Verstanden?" Beinahe hätte ich sie wie einen Welpen am Nacken gepackt und fortgeschliffen.
"Ich bringe dich jetzt zurück wo du hingehörst. Dann will ich nie wieder so sehen!," erklärte ich dann mit gemäßigter, aber nicht weniger eindringlicher Stimme, und stampfte voraus.
Nach ein paar Metern drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, dass sie meiner Weisung folgte. Und weil ich nicht wusste wo sie überhaupt hingehörte. War sie teil eines Rudels? Hatte sie Freunde? Sie durfte jedenfalls nicht mehr alleine irgendwo rumlaufen. Das stellte eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
"Wo gehörst du hin?," fragte ich also trocken.

Sie wechselte das Thema. Na super. Ich blieb vorerst an Ort und Stelle stehen. Sie konnte nicht lange ruhig sitzen, das wusste ich. Früher oder später würde sie schon mitkommen.
Natürlich war sie kein Jungwolf mehr, das war sie auch bei unserer ersten Begegnung nicht mehr gewesen, aber wenn sie sich so kindlich verhielt, dann konnte ich doch auch nichts dafür, wie andere sie wahrnahmen... Wie ich sie wahrnahm. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. "Zu jung," erwiderte ich knapp, setzte dann aber doch noch ein Bruchstück Erklärung dazu, "Für mich." Warum wollte sie das jetzt überhaupt wissen? Natürlich ging es ihr darum zu erfahren, warum ich sie abgelehnt hatte aber das war doch irrelevant. Ich wollte wirklich nicht mit ihr über so etwas reden. Immerhin war ich jetzt geheilt. Ihren speziellen Duft nahm ich noch wahr, hatte aber kein Problem mehr mich zu widersetzten.
Und Wenigstens beruhigte ich mich nun etwas. So ein Ausbruch war untypisch für mich. Der letzte, an den ich mich erinnern konnte, hatte nach der Wildschweinjagd stattgefunden, der ich meine Narbe zu verdanken hatte. Dem verantwortlichen Wolf hatte ich beinahe den Brustkorb zertrümmert.
"Beweg dich. Hier ist es nicht sicher," forderte ich sie noch einmal auf.

Als sie ging blieb ich etwas vor den Kopf gestoßen stehen. Zum ersten Mal gab sie eine einigermaßen vernünftige Reaktion von sich. "Du bist unvernünftig." Das hieß aber nicht, dass ich ihr zustimmen musste, nur weil sie ruhig redete. Zwar hatte ich recht damit, dass sie nicht still sitzen konnte, doch sie ging einfach weg. Missmutig musste ich meine Niederlage eingestehen. Das letzte Wort hatte ich trotzdem, denn nach meiner Äußerung trabte ich in entgegengesetzte Richtung davon.

Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Verdammt!
Ich war nicht wachsam genug gewesen. Ihr Geruch hatte vermutlich den des Menschen übertüncht. Verdammte Paarungszeit!
Und dann hatte ich mich so aufgeregt. War ich zu laut geworden? Hatte ich uns verraten?
Reflexartig duckte ich mich dicht an den Boden und hinter einen Baum. Das Adrenalin ließ meinenPuls sofort höher schlagen und mein Instinkt übernahm die Führung. Ich schien nicht verletzt zu sein. Suchend sah ich mich nach der Wölfin um...

Sie war nirgends zu sehen. Ich wusste, dass das, was ich vorhatte dumm war, aber wenn ein Wolf in Gefahr war, dann musste auch ich mal ein Risiko eingehen. Trotzdem blieb ich wachsam und schlich mich Schritt um Schritt wieder zu dem Unfallort zurück. Dort hatte ich sie zuletzt gesehen, also war sie entweder noch da, oder ich konnte ihre Fährte von dort aus verfolgen.
Mittlerweile konnte ich auch den Menschen riechen. Ich wusste bloß nicht, ob ich seinen Gestank oder Runas penetranten Lockduft schlimmer fand. Neben dem Schweiß und dem allgemein menschlichen Geruch war da eine Komponente, die besonders hervorstach: Angst. Kaum hatte ich das identifiziert, hörte ich schnelle Schritte in meine Richtung kommen und einen Moment später tauchte der Jäger auf. Ich hörte seine Atmung und seinen Herzschlag, die bestimmt viel zu schnell waren. In seiner Hand hielt er einen dieser Stöcke, und ich setzte bereits zum rettenden Sprint hinter den umgefallenen Baumstamm an, als der Jäger mich erblickte, einen panischen Schrei von sich gab und wegrannte.
Das war doch nicht Sinn einer Jagd... Vor was hatte er sich so erschreckt, dass er so eine Angst hatte und nicht mal dran dachte mich mit dem Dings umzubringen? Waren Menschen etwa noch dümmer als ich angenommen hatte?
Wie auch immer... Ich musste noch immer herausfinden, ob die Wölfin nun verletzt oder sogar tot war. Allerdings war sie — wenn sie doch etwas Verstand hatte — jetzt längst über alle Berge, sofern sie laufen konnte.
Erst nachdem sich der Menschengestank gelichtet hatte, fiel mir der leichte Blutgeruch in der Luft auf. Der war vorher noch nicht da gewesen. Zudem konnte ich ihn ganz eindeutig dem kleinen Tollpatsch zuordnen. Mit gesenkter Schnauze suchte ich nach einer Blutspur. Erfolgreich.

Die Fährte führte mich ein ganzes Stück durch den Wald. Immer wieder sah ich mich um, lauschte und prüfte die Luft, ob sich noch irgendwo ein Mensch verbarg. Die Wölfin schien das Unglück praktisch anzuziehen. Nein, sie ist einfach unvorsichtig. Das hatte ich doch schon festgestellt.
Die Blutstropfen wurden größer und häufiger. Ein ungewohntes Gefühl machte sich im mir breit. Sorge. Aber Sorge machte irrational und das konnte ich nicht gebrauchen. Ich hatte keinen Grund mich um sie zu sorgen. Sie wollt auch nicht, dass ich mich um sie sorgte. Das hatte sie klargestellt. Nein, sie will nicht, dass ich sie wie einen Welpen behandle. Aber offenbar muss sie wie einer behandelt werden. Das hier ist ja wohl Beweis genug, dass sie nicht auf sich selbst aufpassen kann.

Irgendwann wurde ihr Geruch intensiver und dann erblickte ich sie, als ich einen kleine Hügel erklomm. Dort lag sie auf dem Boden. Reglos. "Runa?", fragte ich sanft. Ich schien mich wohl doch an ihren Namen zu erinnern. Mit zwei großen, sprungartigen Schritten war ich bei ihr und blickte auf sie hinab. Ihre Schulter blutete stark, aber sie atmete. Hm. Zäh ist sie zumindest. "Sicher, dass du kein Welpe bist?" Schon war jegliche Sanftheit aus meiner Stimme verschwunden. Sie lebte, also konnte sie sich auch die nächste Schimpftirade noch anhören.