Schlaf war in letzter Zeit ein nahezu unerreichbarer Luxus für mich geworden, ein ferner Traum, der sich immer weiter von mir entfernte. Seit all den Katastrophen, die über uns hereingebrochen waren, hatte ich mir angewöhnt, nur noch zu dösen. Selbst wenn mein Körper fast verzweifelt danach schrie, endlich in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu sinken, blieb ich in einem Zustand ständiger Wachsamkeit. Es war, als hätte sich meine innere Uhr umgestellt, immer bereit, auf den kleinsten Laut zu reagieren. Gefühlt hatte ich gerade erst die Augen geschlossen, als ich plötzlich Schritte wahrnahm. Mein Ohr zuckte unwillkürlich in die Richtung, aus der sie kamen, und ich öffnete die Augen einen Spalt, um mich zu vergewissern.

In den letzten Wochen hatte ich gelernt, die Wölfe allein an ihrem Gang zu erkennen. Jeder von ihnen hatte eine eigene Art sich zu bewegen, einen individuellen Rhythmus, der sie verriet. Ich wusste sofort, dass es Talia war, die sich näherte. Die große Wölfin hatte einen schwereren, entschlossenen Gang als die meisten anderen im Rudel, was es mir leicht machte, sie zu identifizieren, noch bevor sie in mein Blickfeld trat. Deshalb überraschte es mich auch nicht, als Talia schließlich vor mir stand. Was mich jedoch wirklich erstaunte, war das, was sie vor meinen Pfoten ablegte: ein Hase.

Ich richtete mich langsam auf, meine Müdigkeit für einen Moment vergessend, während ich ungläubig auf das Tier starrte. „Du hast tatsächlich einen Hasen aufgetrieben...“ Meine Stimme war leise, fast ehrfürchtig, als könnte ich kaum glauben, was ich da sah. Mein Blick wanderte über den Rudelplatz, und zu meiner Überraschung entdeckte ich noch weitere Hasen, die in den Schatten lagen, wo Talia sie wohl abgelegt hatte. „Mehrere Hasen... gute Arbeit!“ Ich konnte die Bewunderung in meiner Stimme nicht verbergen. Ich hatte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass Talia bei der knappen Beute so erfolgreich sein würde, doch hier lag der Beweis für ihre Geschicklichkeit. Ihr Erfolg gab mir neuen Mut und ließ in mir die Hoffnung aufkeimen, dass unser Rudel sich endlich wieder erholen könnte. Vielleicht, dachte ich, würden wir bald mehr sein als nur ein Haufen abgemagerter Rippen und stumpfen Fells.

Gerade als ich den Mund öffnete, um Talia noch etwas zu sagen, bemerkte ich einen dunklen Schatten, der sich uns von der Seite näherte. Es war Dagger, eine Wölfin, die einst zum Nebelrudel gehört hatte und nun mit ihrer Familie bei uns ein neues Zuhause gefunden hatte. Ihre Ankunft bei uns war Teil eines größeren Stroms von Wölfen gewesen, die sich in der Not zusammengeschlossen hatten. Wie so einige andere… dachte ich stumm, während ich sie sanft anlächelte.

„Nein, Dagger. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen,“ sagte ich freundlich, als ich das Zögern in ihren Augen bemerkte. „Du hast die gleiche Daseinsberechtigung wie Talia und ich.“ Meine Worte waren ehrlich, voller Wärme und dem Wunsch, ihr zu zeigen, dass sie hier willkommen war. Ich wollte, dass sie wusste, dass sie ein Teil dieses Rudels war, genauso wie jeder andere hier.

Dann wandte ich mich wieder Talia zu, meine Stimme jetzt voller Dankbarkeit. „Vielen Dank für deine Mühe. Es ist mir wichtig, dass die anderen zuerst fressen und dass auch du dich gut versorgst.“ Mit einer entschlossenen Bewegung schob ich den Hasen, den Talia vor mir abgelegt hatte, mit meiner Pfote in ihre Richtung. Es war für mich selbstverständlich, dass sie und Dagger zuerst essen sollten. Das Wohl des Rudels stand für mich an erster Stelle, und nur wenn wir alle gestärkt waren, hatten wir eine Chance, die kommenden Herausforderungen zu überstehen.

Talia wirkte fröhlich und aufgedreht nach der Jagd, ihre Augen funkelten vor Energie und das leichte Zucken ihrer Ohren ließ erkennen, dass sie noch voller Adrenalin steckte. Der Regen, der gerade noch sanft auf die Lichtung niedergeprasselt hatte, verstärkte sich zusehends und bildete nun Pfützen im weichen Boden, während das Trommeln der Tropfen auf den Blättern der Bäume zu einem stetigen Rauschen anschwoll. Der Rudelplatz, unser sicherer Rückzugsort, lag etwas abseits des Waldrandes, umgeben von dichtem Gebüsch und hohen Fichten und Birken, die nun schwer unter dem Gewicht des Regens hingen. Der feuchte Erdgeruch erfüllte die Luft, vermischt mit dem metallischen Duft des frischen Wildes.

Zu gerne hätte ich mich von Talias unbändiger Freude anstecken lassen, doch ehrlich gesagt war ich viel zu müde. Der zunehmend kälter werdende Regen ließ meine Muskeln noch schwerer wirken. Also schob ich den Hasen, den sie erlegt hatte, noch ein Stück weiter in ihre Richtung, während ich mich bemühte, meine Erschöpfung nicht allzu offensichtlich zu zeigen.
„Ich bin mir sicher. Versorg erst die anderen!“ murmelte ich mit einem leisen, aber bestimmten Tonfall, meine Pfote immer noch auf dem Kadaver ruhend.

Ein leises Rascheln im Unterholz lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen weiteren Neuankömmling. Adria trat aus den Schatten und gesellte sich zu uns. Die junge Wölfin war noch nicht lange Teil unseres Rudels, doch sie strahlte bereits eine bemerkenswerte Weisheit und innere Stärke aus, die weit über ihr Alter hinausging. Ich lächelte ihr zu, als sie sich in einer stillen Geste neben mir niederließ.
„Eine gute Entscheidung, Adria,“ sagte ich, meine Stimme sanft, aber voll Anerkennung, während ich ihr mit einem Nicken meine Zustimmung zeigte. „Wir müssen auf unsere Ressourcen aufpassen.“ Der Regen wurde noch stärker, große Tropfen platschten nun auf den Boden. Ein Blick zu Dagger, ihrer Mutter, ließ mich erneut lächeln. Ihre Tochter war wirklich gelungen, und es erfüllte mich mit Freude, dass die beiden nun Teil der Silberwölfe waren.

Doch als Dagger das Schattenrudel erwähnte, verflog die Wärme aus meinem Gesicht. Die Sorge legte sich wie ein Schatten über meine Züge, und mein Blick wanderte instinktiv zu den dichten, dunklen Bäumen am Rande des Rudelplatzes, wo die Gefahr immer lauerte. Der Wind trug den Geruch von feuchtem Moos und nasser Erde heran, aber darunter lag eine Spannung, die ich nicht abschütteln konnte.
„Bitte passt auf euch auf, wenn ihr das Revier verlasst,“ sagte ich mit ernster Stimme, und mein Blick wanderte von Adria zu Dagger. „Momentan wissen wir nicht, wie viele es vom Schattenrudel geschafft haben oder wer sich noch ihnen angeschlossen hat. Der gestrige Freund kann heute schon ein Feind sein.“ Mein Atem hing für einen Moment in der feuchten Luft, bevor ich eindringlich hinzufügte: „Riskiert nichts.“

Ich hatte den Worten der Wölfe nur gelauscht, ihre tiefen, rauen Stimmen, die wie ein Echo durch den Wald hallten. Danach beobachtete ich, wie Adria ihre Mutter kurz an der Nase berührte. Eine sanfte Berührung, kaum wahrnehmbar – doch in ihr lag so viel Liebe und Zuneigung, dass es ihre Worte nur unterstrich. Ich verstand, warum sich die junge Wölfin so sehr um ihre Mutter sorgte. In solchen Momenten fehlte mir meine eigene Familie schmerzlich.

Ich hatte inzwischen akzeptiert, dass Tayro nicht mehr wiederkommen würde, aber dass ich Rebell und Marek so schnell verlieren würde – nun, das hätte mir vermutlich den Boden unter den Füßen weggerissen, wenn ich nicht plötzlich die Verantwortung für so viele andere hätte tragen müssen.

“Eine gute Idee, und mir wäre auch wohler, wenn ihr beiden, Talia und Adria, nicht alleine unterwegs seid,” bekräftigte ich sie in ihrem Entschluss, gemeinsam auf die Jagd zu gehen. “Wir müssen auf jeden Fall deutlich machen, dass wir noch da sind. Und kampflos geben wir eh nicht auf,” knurrte ich leise in mich hinein, als unser Gespräch wieder einmal auf die Schattenwölfe gelenkt wurde. Es war ja nicht so, als hätten wir keinerlei andere Sorgen – nein, die Schattenwölfe waren leider noch immer da. Dabei hätte es auch einfach sie treffen können.

Schnell schüttelte ich den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. “Dagger, ich könnte einen kleinen Spaziergang gut vertragen. Ich würde dich begleiten,” fügte ich hinzu, in der Hoffnung, dass ein wenig Bewegung meine aufgewühlten Gedanken beruhigen würde.