Marco sah aufgeschreckt Kobalt an, als sie näher zu uns kam und ihn ansprach. Unruhig begann er damit mit seinen Pfötchen über sein kleines Gesicht zu fahren um es zu putzen. Kobalt... Nero er... ist verschwunden. Ich sollte dir das nicht sagen, aber er ist weg. Bossa hat Tage lang nach ihm gesucht. Breeze ist auch plötzlich weggewesen.

Wie ein Tropensturm fiel die Information über das Verschwinden meines Bruders über mich herein. Kopfüber wurde ich ins kalte Wasser von verschlingenden Emotionen geworfen und in diesem hin und her gerissen. Verwirrung, Sorge und Angst vermischten sich zu einem Strudel, der mir kurzzeitig den Atem nahm. "Wie... verschwunden?", fragte ich und man musste mir die innerliche Aufgewühltheit schon auf hundert Meter Entfernung ansehen. Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurück geworfen und mit der nächsten Frage sank ich förmlich in mich zusammen: "Verschwunden... wie Mama?" Meine Kehle schnürte sich zusammen und ich fragte mich unwillkürlich, ob unsere Familie schon wieder halb in die Brüche ging. Ein Gedanke der mir die Tränen in die Augen trieb und den Wunsch in mir weckte, aufzuspringen und selbst nach meinem verlorenen Bruder zu suchen. Er konnte nicht weg sein! Er durfte nicht! Nicht wie Mama! Und Breeze musste auch zurückkommen! Sie mussten einfach!

Marco, ganz der große Bruder dessen Rolle er angenommen hatte, riss sich zusammen und überbrückte die wenigen Zentimeter die ihn noch vom seiner Schwester trennten, um sein Köpfchen auf ihre Schnauze zu legen und ihr fest, aber liebevoll, im die Augen zu sehen. Das wissen wir nicht, aber hab keine Angst, wir finden in schon noch. Bossa war nur zu erschöpft um noch weiter zu gehen. Er ist nicht mehr so jung und er wollte sichergehen, dass du noch da bist.

Mama war fort. Nero verschwunden. Und auch Breeze war nun verschollen. Die Geschichte schien sich zu wiederholen und doch streute Marcos Zuversicht leichte Hoffnung in mir. Eine kleine, zarte Pflanze, die jederzeit wieder verschwinden könnte. "Wie kannst du dir da so sicher sein?", fragte ich nach und die leise Verzweiflung, vermischt mit Trauer, ließ einen guten Blick auf meine Gedankengänge zu, "Woher weißt du, dass wir ihn finden werden?" Ich fühlte mich plötzlich ausgelaugt und ich kniff meine Augen kurz zusammen. Ich wollte meine Familie nicht schon wieder zum Teil verlieren! "Ich werde nie einfach so verschwinden!", beharrte ich leise und wendete meinen verschwommenen Blick auf meinen schlafenden Vater, "Niemals..." Doch... warum sollte Nero einfach so gehen? Er hatte doch keine Gründe! ...oder?

Weil ich daran glaube, ganz einfach. Ich glaube daran, dass wir ihn finden werden, also werden wir ihn auch finden. Marco lächelte so überzeugt wie er nur konnte und schleckte seiner Schwester mit seiner kleinen rosa Zunge über die Nase. Wenn wir jetzt verzweifeln bringt das keinem was. Mit seinem besten zuversichtlichem Blick bedachte der kleine Hase Kobalt und nickte dann auf ihre Versicherung hin. Das glaube ich. Wir werden immer zusammen sein, oder Schwesterchen?

Ich wollte Marcos Worten Glauben schenken - ich wollte es wirklich! Und dennoch verblieb die Unsicherheit, die Sorge und auch die nagende Angst. Meine Ohren drehten sich zurück und schmiegten sich traurig in meinen Nacken, machten den Versuch von Tapferkeit gleich zu nichte. So wusste wirkliche ein jeder, dass mein gemurmeltes "Wir werden ihn finden!" nicht mal halb so überzeugend war, wie das von Marco. Und auch wenn seine Worten eine Wahrheit aufzeigten, konnte ich mich dennoch nicht wirklich an sie halten. Natürlich half es keinem, wenn man verzweifelte, aber ich konnte dieses Gefühl einfach nicht zurückdrängen. Es war da, klammerte sich energisch fest und wollte einfach nicht verschwinden. Zumindest mein letzter Satz war ehrlich und voller Liebe zu meinem Bruder: "Natürlich bleiben wir das!" Beinahe empört betrachtete ich ihn, doch dieser kleine Funke wurde sogleich wieder überlagert. Ich würde ihn niemals zurück lassen!

Für immer. Marco beschloss, dass es an der Zeit war seins kleine Schwester abzulenken. Und zwar mit etwas von dem er wusste, dass es ihr sehr wichtig war. Hey sag mal, hast du da gerade eben noch mit Jive gekuschelt? Marco hob das Köpfchen etwas um den jungen Rüden anzusehen. Hey Jive, wenn Bossa das sieht wird er sicher wieder böse auf dich sein. Der kleine Hase grinste ein wenig bei seinen Worten.

Trotz der dunklen Wolken, die über mir zu hängen schienen, lächelte ich matt. "Ich hab dich lieb, Marco", flüsterte ich leise und stupste meinen Bruder sanft an. Gerade als ich wieder drohte in Trübsal zu versinken, meldete sich der braune Hase wieder zu Wort. Der Themawechsel vertrieb die düsteren Gedanken und ließ mein Herz gleich wieder stolpernd seine Geschwindigkeit steigern. "Ja... ich meine... vielleicht?", gab ich zögernd zurück, da ich es ja schlecht leugnen konnte oder überhaupt verschweigen wollte. Ich folgte seinem Blick zu Jive hinüber und hielt überrascht inne. "Warum sollte er das sein?", fragte ich verwirrt und betrachtete meinen Freund unsicher. Er hatte doch gar nichts falsch gemacht, oder?

Mond reagierte nicht, was mir irgendwie auch recht war. Mein Blick verharrte weiterhin auf Mama und irgendwann auf dem Alphabaum, der mittlerweile kahle Flecken aufwies. Ich seufzte und blickte nur ganz kurz zu Kobalt, als diese zu ihrem Vater robbte und mit ihrem Hasenbruder zu reden begann. Oder sich eher vollquieken ließ - so kam es bei mir jedenfalls an. Bis heute hatte ich einfach noch nicht begreifen können wie sie mit dem kleinen Kaninchen kommunizierte. Seufzend erhob ich mich vollends und stieg aus der Grube heraus. Meine Bewegungen waren dabei recht flüssig und als ich stoppte, schüttelte ich minimal meinen Körper um mein Fell von Staub zu lösen. Hier setzte ich mich nun hin und blickte etwas teilnahmslos in die Ferne, während ich versuchte nicht zu lauschen. Ich hörte dass Kobalt besorgt war, doch außer weniger Gesprächsfetzen und das Quietschen von Marco konnte ich nur die Hälfte verstehen, weswegen ich rasch in meine eigene Gedankenwelt abdriftete. Erst nach wenigen Minuten linste ich wieder zu dem seltsamen Geschwisterpaar, die mich nun beide direkt anzusehen schienen. Sofort spannte ich mich ein wenig an und wurde unter Kobalts verwirrten Blick knallrot vor Nervosität. Was war denn nun los?

Weil Bossa es nicht mag, wenn er dir so zu nahe kommt. Als Marco Jives offenbar ratlosen Blick sah begann er zu lachen und legte sich hin. Ich hab ganz vergessen, dass er mich nicht versteht, anders als seine Mutter.

Ich versuchte Jive anzulächeln, da dieser sich wohl durch unseren Blick in seine Richtung bewusst war, dass wir über ihn redeten. Doch spätestens bei Marcos Antwort, scheiterte dieser Versuch und mein Kopf drehte sich schwungvoll zurück zu meinem Bruder. "Aber warum denn?", fragte ich und dass, deutlich zu laut. Warum sollte Jive Ärger bekommen, nur weil er in meiner Nähe war? Wir waren doch beste Freunde und mit Papa hatte ich doch auch schon darüber geredet, dass da vielleicht doch mehr war. Und er hatte mir sogar geraten, dass ich mit Jive darüber reden sollte - etwas, was ich verdrängt, zurückgeschoben und in meinem Kopf weggeschlossen hatte. Ich konnte das einfach nicht! Meine Ohren zuckten leicht und wandte meinen Blick wieder zu dem bräunlichen Rüden, den ich nach wie vor nachdenklich und nun auch deutlich verunsichert beobachtete. Irgendwie verstand ich es nicht mehr. "Ist... vielleicht auch besser so", murmelte ich leise. Immerhin konnte er so Marcos Worte nicht verstehen und sich daraus nichts ableiten. Und auch die Drohung, dass er Ärger bekommen würde, war für ihn damit nicht existent.

Die beiden flüsterten weiter und im Hintergrund hörte ich auch Mama entsetzt mit Tristan tuscheln. Mein Blick streifte die beiden etwas ratlos und dann drehte ich die Ohren zurück. Ich blickte wieder auf Kobalt und ihren Bruder und dann wurde es mir zu bunt. Ich kam mir einfach blöd dabei vor, wie die beiden über mich zu reden schienen und ich nichts verstand. Mit angelegten Ohren und einem leicht gekränkten Funkeln in den Augen drehte ich mich einfach um und verließ den Rudelplatz.

=> Mondscheinteich (Nebelwölfe)