10 Tage waren vergangen, als ich das letzte Mal hier war und doch schien alles unverändert.
Nur der restliche Kadaver des Rehbocks stank mittlerweile vor sich hin.
Niemand will deine Beute haben. Sie misstrauen dir!
Glücklicherweise hatte ich vorgesorgt und mir auf dem Weg zum Rudelplatz eine reichhaltige Mahlzeit verschafft.
Das Mufflon war sehr lecker gewesen und erst als ich meine Fänge in die frisch gerissene Beute schlug, bemerkte ich, wie ausgehungert ich mittlerweile wieder war.
Kein Wunder!
Die Zeit am Fluss war wie im Traum vergangen und da ich weder eine große Fischjägerin noch Fischliebhaberin war, gab es in dieser Zeit für mich keine Nahrung.
Nun hatte ich mich an den dampfenden Eingeweiden, am warmen Blut und an dem frischen Fleisch gelabt, war pappesatt und zufrieden.
Ich war auch zufrieden, dass ich diese unverschämte Fähe in die Schranken verwiesen hatte.
Hier im Wolfsgebiet musste anscheinend jeder selbst für sich klarkommen, für sich selbst jagen und für sich selbst einstehen - egal, ob er zu einem Rudel gehörte oder nicht.
Nun, das konnte ich. Das war ich gewohnt.
Ich hatte erwartet, dass es in einem Rudel anders wäre, aber was wusste ich schon von Rudeln ?
Ich war 10 Tage fort gewesen und niemanden hatte es interessiert. Selbst jetzt, da ich wieder da war, bot sich mir der gleiche Anblick wie vorher-gerade so, als ob überhaupt keine Zeit vergangen war.
Ich zerrte meinen fleischhaltigen Mufflonschenkel in meine Höhle.
Der würde mich die nächsten Tage ausreichend ernähren.
Warum sollte ich meine Beute teilen? Niemand wollte sie schließlich.
Als das erledigt war, stieg mir immer noch der Gestank des Rehbocks in die Nase.
Niemand sonst schien sich daran zu stören.
Ich rappelte mich noch einmal auf und schlich zur Quelle des üblen Geruchs.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis ich die Überreste des Kadavers sicher vergraben hatte. Dann war auch das erledigt und ich ging zurück in meine Höhle, warf den anderen Wölfen ein paar Seitenblicke zu.
Aber nein ! Stören würde ich sie sicher nicht!
Ich hatte nicht vergessen, wie empfindlich sie waren.
Sollte Saikko sich doch allein um die Verletzten kümmern! Sollte Gunter weiter seinen Freund Rolf verhätscheln und dieser mich böse anknurren! Was soll´s ?!
Als ich auf meinem Lager in meiner Höhle lag, dachte ich nach.
Ich dachte nach, was ich hier bisher so alles erlebt hatte und ich dachte auch über meine Vergangenheit nach.
Lena fehlte mir so sehr, ihre Freundschaft, ihre Liebe! Der gutmütige Dottore, der auf alles eine Antwort hatte, Zlatan und seine Lieder, ...
Wenn einer von ihnen mal einen Tag fehlte, suchten ihn die anderen, sorgten sich um ihn, ... man hielt zusammen ...
Wehmütig ließ ich meinen Kopf auf meine Vorderpfoten sinken.
Hier war alles anders.
Gunter war sehr nett gewesen -zuerst. Casanova auch, aber obwohl er mir hilfsbereit alles erklärt hatte und das Revier gezeigt hatte, aber dann hatte er sich zurückgezogen und seine Freiheit betont, die er haben müsste.
Ich konnte mir gut denken, was diese taktvolle Beschreibung seines Verhaltens bedeutete.
Schließlich war ich nicht nasenblind und hatte den Geruch der Paarung mit einer anderen Fähe deutlich gerochen. Auch ich war in Stimmung gewesen, aber das hatte er wohlweislich ignoriert.
Respekt und Höflichkeit ? Ja. Aber mehr?
Und so grübelte ich vor mich hin. ...

Ich hörte die Stimme der Anführerin.
Sie wollte jagen.
Bei einer Jagd bin ich immer dabei, sagte ich zu ihr.
... und wenn du vorher noch etwas essen möchtest, habe ich da noch die Hinterkeule eines Mufflons - ganz frisch gejagt! Du kannst dich gerne bedienen, ehrenwerte Anführerin.
Ich zog meine Beute hervor, damit sie sie auch sehen konnte.
Dann wartete ich ab.
Würde sie meine Beute verschmähen?

Ich freute mich, dass die Anführerin meine Beute nicht verschmähte.
Das war ein gutes Zeichen.
Sie wirkte nett und freundlich. Von ihren Vorbehalten und dem Argwohn war nichts mehr zu spüren.
Erleichtert atmete ich auf.
Auch war ich froh, dass mich nach so langer Zeit endlich mal wieder jemand beachtete.
Mir geht es nicht schlecht, meinte ich daher und bemühte mich um eine Höflichkeit, die der Situation angemessen war.
Niemand hat mich offen angefeindet und Casanova war sogar so nett gewesen, mir das Revier zu zeigen.
Sonst hatte ich allerdings noch kaum Kontakt. Die anderen Wölfe waren sehr zurückhaltend ... und wohl auch etwas empfindlich, meinte ich und dachte an die Reaktionen von Gunter oder Saikko.
Mir ist aufgefallen, ehrenwerte Anführerin (die Namensbezeichnung "Lyv" wollte noch nicht so recht über meine Lippen), dass hier jeder sehr für sich ist, für sich alleine jagt, sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und so weiter.
Das überrascht mich ein wenig, denn ich hätte gedacht, dass da das Rudel enger zusammenarbeitet.
Doch das soll keine Kritik sein! fügte ich erklärend hinzu und zog meine Rute entschuldigend ein wenig unter mich.
Ich habe versucht mich hier und da nützlich zu machen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es sonderlich willkommen war.
Ich sammelte Heilkräuter und Saikko wirkte nicht besonders zufrieden. Ich jagte einen Rehbock und niemand aß davon. Ich möchte doch nichts falsch machen. Ich habe nur wenig Erfahrung im Zusammenleben mit Wölfen. Da kann man nur Fehler machen, sagte ich und sah die Anführerin ernst an.

Es ist gut, einen Ort zu haben, wo man wirklich sicher sind! bestätigte ich die Worte der Anführerin.
Als ich mit meinem Menschenrudel unterwegs war, waren wir nirgendwo sicher. Wir schliefen fast jede Nacht woanders und immer und zu jeder Zeit konnte der Feind auftauchen. Sie haben uns gejagt, wie die Hasen und sie waren uns sehr überlegen. Sie waren so viele und wir nur so wenige ... und sie hatten die neusten Waffen, Gewehre, mit denen sie sogar im Dunkelen sehen konnten.
Am Ende haben sie uns ja auch erwischt, aber wir haben lange standgehalten.
Ich schüttelte meinen Kopf, als mich wieder die Erinnerung an die toten Gesichter meiner Freunde überkam.
Ach, Lena! Warum nur, warum musstest du auch sterben?
Dann riss ich mich wieder zusammen und hoffte, dass meine einzelnen Träne unbemerkt geblieben war.
Auch diese Wölfe hatten gelitten und Verluste zu beklagen.
Ich sah meiner Anführerin in die Augen.
Natürlich kümmere ich mich weiter um Saikko! Ich würde ihr nie ihren Platz streitig machen und ich bin ja auch keine ausgebildete Heilerwölfin.
Ich kümmere mich auch um die anderen, wenn du es willst, aber du solltest es ihnen vielleicht sagen, dass ich ihnen nichts Übles will - vor allem Gunter und Rolf, der garnicht darüber erfreut war, als ich helfen wollte.
Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin.
Ich will mich schließlich auch nützlich und gebraucht fühlen und den Rehbock zu erlegen war auch für mich nicht ganz einfach gewesen.
Niemand sonst hatte hier gejagt und es gibt Welpen bzw. Jungwölfe. Ich dachte, ich würde das Richtige tun, wenn ich Beute heranschaffte. Deshalb verstand, verstehe ich auch nicht, warum niemand sie annahm.
Die Geschichte der Rudel? Woher soll ich eure Geschichte kennen? Ich komme von weit weg. Da hat noch niemand von euren Rudeln gehört.
Ich kann dir Geschichten erzählen, Geschichten, die ich selbst erlebt habe oder die mir andere erzählt haben. Ich kenne die Legenden aus alter Zeit, die mir meine Eltern beigebracht haben und ich kenne manche Lieder. Manche Lieder stammen von anderen, manche Lieder habe ich mir selbst ausgedacht. Doch die Geschichte eurer Rudel? Woher sollte ich die kennen?

Ich lächelte sie an.
Du hast recht, wir sind hier alle frei!
Freiheit! Svoboda! Das war der Name, den sie mir gegeben haben! Dafür würde ich leben und sterben!
Gehe und suche sie! hatte Lena gesagt. Hier war sie nun - die Freiheit!
Die versöhnlichen Worte der Anführerin spülten meine Bedenken hinweg. Vielleicht hatte ich mir ja auch einfach nur zu viele Gedanken gemacht.
Vertrauen, ja das war wohl der Schlüssel!
Ich wollte alles richtig machen. Da war ich wohl ein bisschen zu übereifrig gewesen.
Nun das ließ sich ändern.
Ich würde die weisen Worte meiner Anführerin beherzigen.
Ich danke dir für deine Belehrung, ehrwürdige Anführerin! Du hast Recht. Wie sollten sie mir auch schon vertrauen können? Ich war wohl ein bisschen zu übereifrig gewesen, aber ich werde mich in Geduld üben.
Dann lächelte ich erneut, als ich sah, dass sie ihr Mahl wohl beendet hatte und meinte:
Von mir aus bin ich startklar, wenn du jetzt noch jagen willst?
Ich wedelte auffordernd mit meiner Rute.
Die Anführerin war jung, aber sie verstand sehr viel. Hier geschah nichts zufällig. Das wurde mir bewusst.

Ja gerne, das machen wir so!
Froh, dass die Anführerin mich verstand erhob ich mich.
Es ist wichtig, die Reviergrenzen immer genau zu markieren und zu kontrollieren. Es war schön, dass sie mich nun dazu aufforderte dabei zu sein.
Ich fühlte ein warmes Gefühl des Verständnisses in meinem Herzen.
Du hast doch eine gute Wahl getroffen, Svoboda!
Gerne lausche ich deinen Worten und vernehme die Geschichte des Rudels, in das du mich aufgenommen hast! meinte ich formell und grinste sie dann an. Meine Geschichten sind sicher nicht so interessant, aber ich erzähle sie dir gerne.

Hier ist ein lehrreiches Lied über eine Jagd, meinte ich, setzte mich in Positur und sang es in meinem klaren Wolfssophran.
Ich hatte schon lange kein Lied mehr gesungen.

Mondschein über den grünen Hügeln, die Schatten der Nacht, sie eilen herbei
Scharfzahn führt das Rudel zur Jagd, seine Gefährtin ist - wie immer - dabei
Graupfote sagt ihm, am Rande des Bachs, hat er am abend Wildschweine gesehn´
einen Keiler, fünf Bachen und der Frischlinge viel! Was kann da schon Schlimmes geschehn´?

Mit dem Nachtwind, den Schatten und dem Mond über sich, fand das Rudel alsbald schon sein Ziel.
Der Jagderfolg würde ihnen sicher bald sein und es gab der Beute gar viel.
Ich nehm´den Keiler, ergriff Scharfzahn das Wort und es konnte ihn jeder verstehn´.
Ihr nehmt die Bachen und der Frischlinge viel! Was kann da schon Schlimmes geschehn´?

Doch der Keiler war mutig, der Keiler war stark! Keine Beute! Ein Kampf bis auf´s Blut!
Scharfzahn biss ihn ins Bein und sprang ihm ins Genick, aber der Eber-er kämpfte gut!
Das Rudel machte reiche Beute und jeder konnte verstehn´
dass alle Wölfe zufrieden warn, denn die Beute war viel! Was kann da schon Schlimmes geschehn´?

Doch als eine Wolke sich vor den Vollmond schob und sie schwer wurden, die Schatten der Nacht,
stieß der Keiler seine Hauer tief in den Bauch von Scharfzahn. Wer hätt´das gedacht?
Scharfzahn starb für das Rudel - doch aus Übermut - und immer wenn die Jäger beisammen stehn´
Flüstert der Nachtwind leise Vorsicht! Es kann stets was Schlimmes geschehn´!

Natürlich komme ich mit - und ja. du hast recht. Es ist wohl ein etwas trauriges Lied, aber es ist ja zur Belehrung gedacht. Wildschweine können eben gefährlich werden.
Ich kenne aber auch andere Lieder, fröhliche Lieder!

Dann, als wir uns auf den Weg machten, stimmte ich noch ein anderes Lied, ein fröhliches Lied an:

Die rote Fähe war in Not, wen soll ich bloss erwählen?
Zwei schmucke Rüden wollten sie zur Partnerin erwählen.
Der Eine war ein großer Wolf, sehr stark und auch nicht prüde,
Der Andere war klein und schlau, ein intressanter Rüde!
Ich jag´für dich, was du auch magst! Zur Not besieg´ich Bären!
Ich sing´für dich und tanz´für dich! Ich kann dir viel erklären!
Wen also wählt die Fähe nun? Wen sollte sie erhören?
Wer setzt sich durch, wer macht das Spiel? Wer kann sie doch betören?
Am Ende war sie doch allein, drei Welpen ihr beschieden.
Die Rüden warn´schon lange fort, sie war damit zufrieden.


Und mit dieser flotten Melodie folgte ich meiner Anführerin in den Felsenwald.

>>>> Felsenwald

Ich hatte lange geschlafen. Lange und tief, aber nicht ohne Alpträume. Auch jetzt schreckte ich aus einem auf und sah moch um. Meine Verletzung schien verheilt und auch wenn mein Körper an sich schwach war, so war er immerhin nicht mehr verletzt. Ich löste mich langsam von meinem Gefährten und stand, etwas schwankend, auf, ehe ch langsam aus der Haupthöhle ging und mich an den Rand der Felsenplatte setzte, die davor raus ragte.

Ich sah aus dem Augenwinkel wie Rolf an den Rand trat. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen und meine Rute find fröhlich an zu wedeln. Schnell trat ich aus der Höhle und lief auf ihn zu, hallo Rolf. Sagte ich schon von weitem um ihn nicht zu erschrecken. Dann ließ ich mich ein Stück neben ihm nieder, wir haben uns ja ewig nicht unterhalten. Sagte ich lächelnd und wedelte immer noch mit meiner Rute.