Ich nickte und lief schnell zu Mama und meinen Geschwistern. Begeistert riss ich an dem Tier und schaffte es ein Stück heraus zu reißen.
Flair hatte weniger Glück, ich schob ihm mein Stück hinüber.
Hier Flair. ich lächelte ihn kurz an bevor ich mich wieder ans Fressen machte und Genüsslich auf den saftigen Brocken kaute. Das ist lecker Mama!

Ich gehorchte meiner Mutter und fraß etwas langsamer. Als ich das Stück Fleisch vertilgt hatte, fühlte ich mich wie eine Kastanie - rund und träge. Ich streckte alle Viere von mir und lag wie ein Stern da. Das war lecker, säuselte ich müde und schlief ein.

Ich hielt inne in meinem Bemühen das Stück Fleisch heraus zu reißen, als Adria mir ein Stück hinlegte. Ich war einen Moment sichtlich perplex. Meine Geschwister hatten nie ihr Fressen mit mir geteilt. Aus einem Impuls heraus hüpfte ich Adria an und schleckte ihr wild über die Wange. Dankeschön Addy! Mit diesen Worten schnappte ich mir das Fleischstück und begann darauf herum zu kauen. Es war nicht so einfach. Ich brauchte länger als die anderen, das Fleisch zu zerkauen, ließ mich dann jedoch wie Lejan hinplumpsen, nachdem ich gesättigt war. Oder besser gesagt, ich ließ mich direkt neben dem weißen Rüden fallen, so dass wir dicht aneinander lagen. Mit einem kurzen Gähnen legte ich mein Kinn auf Lejans Rücken ab, ehe auch ich einnickte.

Das saftige Fleisch tat wirklich gut; das konnte mir mein Magen nicht verleugnen. Nach der kleinen, erlesenen Maus hatte meine Zunge Geschmack daran gefunden – und mit ihm den zugehörenden Hunger. Dass dieser nun jedoch gestillt werden konnte, war mir bloß gerade recht.
Auch die anderen begannen nach und nach, sich die Beute schmecken zu lassen und ihre beharrenden Bäuche zufrieden zu stellen. Ich lauschte Mamas Worten, nickte ihnen beipflichtend zu und als das Reh das Brummen meines Instinkts gut genug gestillt hatte und sich die ersten meiner Geschwister zur Ruhe legten, konnte ebenso ich mich nicht davon abhalten, das Mahl erst einmal sacken zu lassen.
Ich ließ die Pfoten in der Nähe von dem schlummernden Lejan und dem ebenso dösenden Flair nieder, senkte die Schnauze, doch ließ den Schlaf nicht über mich kommen. Stattdessen folgte ich dem verbliebenen Geschehen am trüben Sumpf, beobachtete surrende Insekten und hängende Nebelfetzen.

Während sich die Körper meiner Brüder im gemächlichen Schlaf sachte hoben und senkten, ließ ich mich von dem herben Milieu des Sumpfes umringen und meinen Blick ziellos durch die zäh trübe Gegend schweifen.
Hin und wieder sirrte irgendetwas an mir vorbei. Mal größer, mal kleiner; mal lauter, mal leiser. Summendes, das ich noch aus den Gräsern des Mondscheinteiches wiedererkannte – und Summendes, dessen Klang und Antlitz mir noch nie zur Erfahrung gekommen war.
Neugierig fing ich die schwirrende Präsenz unbekannter Käfer ein. Und immer weiter fiel mir auf, wie vielen dieser brummenden Insekten, die zwischen den Nebelschleiern brausten, ich nicht einmal einen Namen zuordnen konnte. So viel Neues, das ich erst jetzt wirklich wahrnahm. Insekten, die auf ungewohnte Weise in mein Sichtfeld gerieten. Sie zogen meine Aufmerksamkeit mit sich auf ihre Flüge durch die Luft des Sumpfes; taktlos sprang mein Blick von einem Surren zum nächsten – und ich fragte mich, wie viel es noch davon gab.
Wie viele sirrende Käferchen gab es noch, die sich meiner Kenntnis entzogen? Wie viele Tiere, die ich noch nicht erspäht hatte, mir nicht einmal ausmalen konnte, musste die Welt wohl bieten? Gab es überhaupt genügend Zeit in unserem Leben, sie alle zu erkunden? Und wann wusste man, dass man tatsächlich alle entdeckt und einmal gesehen hat? War dies überhaupt möglich?
Ein liebevolles Summen zupfte mich geradewegs aus meinem Kreis der Fragen. Nicht das Summen eines weiteren namenlosen Insekts, sondern viel mehr das zärtliche Summen der Stimme meiner Mutter.

Ich begegnete ihrem Necknamen für mich sogleich mit einem vergnügten Lächeln, auch wenn der Schleier der Gedankenwelt noch kurz meine Sinne bedeckte; und ich nickte, als sie sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte. Ein Nicken, das vermutlich auch auf ihre darauffolgende Frage, ob mir etwas durch den Kopf ginge, hätte eingehen können.
Viel zu viel, dachte ich, behielt diese Antwort allerdings erstmal innerhalb meiner Gedanken. Stattdessen wandte ich mich ihrer Frage hinsichtlich des Sumpfes zu.
„Ich... weiß nicht recht“, erklang meine Antwort zögernder als beabsichtigt und blickte mitten in die Ferne des Morasts. „Der Sumpf ist mir irgendwie... unheimlich.“
'Unheimlich' wurde zu dem ersten Wort, das mir gerade durch den Sinn fuhr und den Weg auf meine Zunge fand. Doch spürte ich sogleich, dass es nicht das war, was ich tatsächlich ausdrücken wollte. 'Unheilvoll' hätte vermutlich besser gepasst. Oder gar beklemmend und bedrückend. Ich zog meine Stirn sichtbar in Denkfalten, auf der Suche nach einem geeigneten Ausdruck, diese trübe, beinahe schwere Atmosphäre dieser Gegend zu beschreiben, doch keiner wollte mir durch und durch zusagen.

Ich legte mich neben Marlo und bettete den Kopf auf die Pfoten. Da auch mich die Geräusche der Umgebung wach hielten und der Schlaf zu lang auf sich warten ließ, beobachtete ich meinen Bruder wie er zuerst zögernd etwas sagte und dann in ein tiefes Schweigen verfiel. Ich erkannte seine eigenart und wartete bis er sich wieder aus seinen mir unergründlichen Gedanken erheben würde. Sein Ausdruck zeigte Nachdenklichkeit, ich konnte mir nur keinen Reim machen worauf.
Er schien ein wenig unzufrieden.
Marlo, was denkst du gerade nach? fragte ich schlussendlich meinen Bruder und drehte ihm aufmerksam den Kopf zu.

Gähnend streckte ich mich und ließ Flairs Kopf sanft von meinem Rücken gleiten.
Schlaftrunken tapste ich zu meiner Familie. Wo gehen wir hin?, fragte ich verwirrt und sah meine Geschwister und meine Mutter fragend an.

Adrias Stimme mischte sich sogleich in meine Gedanken mit ein, sodass mein rechtes Ohr aufzuckte.
„Ich suche nach Wörtern“, hörte ich mich nachdenklich abwesend – noch völlig vom Gedankenschleier umhüllt – sagen, während mein Blick der Ferne treu blieb; und merkte erst im nächsten Atemzug, wie merkwürdig sich dies aus dem Zusammenhang gerissen anhören musste.
Leicht belustigt über den kontextlosen Satz musste ich lächeln und wandte meiner Schwester den Kopf zu.
Eigentlich wollte ich sagen, ich suche nach Wörtern, die fast so sind wie ‚unheimlich'. Nur... eben anders.“
Ich grinste mit gewisser Unsicherheit. War das überhaupt verständlich? Manchmal wusste ich selbst nicht, ob das, was mein Mund über den Weg brachte, überhaupt Sinn ergab und für andere, die nicht kurz mal in meine Gedanken lugen konnten, verständlich war.

Bei Mutters Frage stand ich mit einem zustimmenden Nicken auf und erlaubte mir erneut einen ruhenden Blick auf die Gegend, als würde es mir sogleich ein passendes Wort zuflüstern. „Ich meine, wie würdest du den Sumpf beschreiben?“ Ich neigte den Kopf nochmals neugierig in Adrias Richtung. Vielleicht hatte sie den Ausdruck im Kopf, der mir fehlte.

Ich sah dabei zu, wie Lejan, noch etwas dösig auf den Pfoten, wach wurde, und lächelte bei seiner Verwirrtheit.
„Dahin, wo du dein weißes Fell endlich wiederbekommst“, grinste ich in liebevoller Frechheit. Dabei war ich mit meinem Matschpelz nicht besser dran.

Ich musste ebenfalls lächeln als Marlo, zuerst noch immer in seinem Kopf feststeckend zu erklären versuchte, worin er gerade festhing. Erst als er mich ansah war ich mir sicher das mein Bruder im diesseits angekommen war. ,,Du hast also darüber nachgedacht wie du den Sumpf findest." fasste ich grob zusammen ,,Und du findest nicht die passende Beschreibung."
Meine rute wedelte fröhlich leicht hin und her. Während ich ebenfalls aufstand und mich strecke überlegte ich. Ja, wie fand ich eigentlich den sumpf? Es gefiel mir, naja, bis auf die ständigen Geräusche die aus dem Nichts kamen und den Nebel... und die nassen Pfoten und der matschige Untergrund, war es gar nicht so schlimm. ,,Nun es ist feucht. Sowohl der Boden als auch die Luft, ich hab das Gefühl mir dringt der Dunst durch den Pelz bis auf die Knochen. Mit steifen Pfoten stellte ich mich zu Marlo, der getrocknete Matsch fühlte sich an wie ein zweiter Pelz der nicht mir gehörte. Den ganzen dreck abzuwaschen kam mir nur recht.
,,Ich würde im groben und ganzen sagen: Es ist beklemmend, ein bisschen Schaurig und wenn du willst eigenartig. Vielleicht auch Einzigartig." das machte ein bisschen Spaß, auch wenn ich nicht so ein tiefer Denker war wie Marlo.

Neugierig folgte ich Adrias Sichtweise auf den Sumpf und ließ meinen Blick dabei – ganz entlang ihrer Beschreibungen – erst hinunter zum matschigen Grund und schließlich empor zu der dicken Luft wandern. Passend zu ihren Worten, die von feuchtem Boden als auch ebenso feuchter Luft sprachen. Und von dem Dunst, der einem durch den Pelz bis in die Knochen drang.
Ein mit Worten gemaltes Bild. Und ich wusste total, was sie meinte. Noch während sie sprach, glaubte ich, ihre Umschreibungen noch viel klarer sowie deutlicher als zuvor an mir zu spüren. An meiner Nase, meinem Fell, meiner Haut. Ich schüttelte mich, als müsste ich mich von dem Dunst befreien, bevor er an meine Knochen geriet.
Ich bemerkte sogleich, wie Adria sich an meine Seite gesellte. Schweigend ließ ich ihr inspirierendes Empfinden auf meinen Kopf einwirken – und musste am Ende lächeln.
„Genau“, entgegnete ich mit tonloser Stimme und widmete den Blick wieder meiner Schwester zu. „Genauso fühlt es sich an.“ Ein sanftes Lächeln zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. So wie Adria es formuliert hatte, hatte sie die Gedankenfedern aufgefangen und in Worte gekleidet, die ich nicht wirklich hatte ausfeilen können. Mir wurde bewusst, dass ein einziges Wort nicht reichte, um das Gefühl, welches dieser Sumpf einem entgegenfärbte, passend auszudrücken. Adria hatte es auf den Punkt gebracht.
Und irgendwie, da ich jetzt genauer sagen konnte, was es war, das mir der Tümpel als neuen Eindruck erweckte, fühlte ich mich nun doch ein kleines Stück wohler.