Klar, gehen wir noch rauf, ich war schon ewig nicht mehr dort. Ich stand auf und sah die anderen beiden mit einem auffordernden Lächeln an. Wer als erstes oben ist? Rolf würde langsam gehen, das wusste ich, aber Lyvianne bei guter Laune zu halten war gerade eben auch wichtig und ich wusste, mein gefährte würde das verstehen.

Hauptsache Lyvianne hatte ihren Spaß. So energiegeladen wie sie war ich schon sehr, sehr lange nicht mehr gewesen, ich hatte es einfach nicht mehr in mir zu laufen, jedenfalls die meiste Zeit nicht, beim Jagen ging es noch, aber sonst hatte ich einfach keine Kraft dazu. Ich stieg den Berg also in kurzen, langsamen Sprüngen hinan und kam erst weit hinter Lyvianne oben an.

Ich stieß meinen gefährten ein letztes Mal sanft an und sprang Kyvianne dann in großen, schweren Sätzen hinterher, die natürlich bei weitem nicht so schnell wie ihre waren, dafür aber weiter reichten, so kam ich nicht zu weit hinter unserer Alpha an und lachte leicht als ich neben ihr landete, Rolf kam erst ein Stück nach uns, aber immerhin war er auch heraufgestiegen. Ach, die Kraft der Jungend. Ich schüttelte mit unernst nachdenklichem Gesicht den Kopf und grinste sofort wieder.

Mayestril hatte offenbar auch seinen Spaß, was mich durchaus auch freute, selbst wenn ich es nicht stark wahrnahm, denn immerhin bedeutete das, dass es meinem Gefährten gut ging, er hatte es verdient glücklich zu sein. Jung waren wir beiden wahrlich nicht mehr, wenn ich richtig zählte waren wir beide nun schon so um die zehn Jahre alt, auch wenn man das Mayestril wirklich kaum ansah wie ich fand, er war immer noch stattlich, groß und muskulös. Lyvianne sah die Gräber an und ich ging sie langsam der Reihe nach ab. Sie waren in besserem Zustand als erwartet, etwas waren die Steine verrutscht, die sie markierten und die Blumen waren natürlich schon lange verblüht, es wurde ja auch Winter, aber sonst war ich erleichtert über ihren Zustand, der schlimmer hätte sein können.

Sie geht niemals weg. Liebevoll grinste ich lyvianne an und stupste dann Rolf an, als dieser zu uns aufschloss, ehe auch ich nachdenklich über die Gräber sah, es war eine ganze Reihe, doch glücklicherweise nichts im Vergleich zu den Massen, die es bei uns damals gegeben hatte. Ich dachte nur noch selten an meinen alten Trupp, ich war schon zu lange weg, die Erinnerungen waren zwar noch präsent wie eh und je, aber die, die sich nicht auf die Kämpfe bezogen verblassten doch langsam, die Gesichter meiner ehemaligen Kammeraden, das unseres Alphas...

Ich sah von einem Grab auf, das ich gerade etwas richtete, ich schob die Steine darauf zurecht, als Lyvianne meinen und Mayestrils Namen sagte. Sie wirkte regelrecht verzweifelt und bald klärte sich auch wieso. Sie konnte sich nicht mehr erinnern wer hier aller begraben lag. Ich senkte den Kopf wieder, erschöpft und traurig, aber nicht unbedingt wegen Lyvianne selbst. Ich hätte mich besser um die Gräber kümmern sollen, hätte dafür sorgen sollen, dass man sich der Toten hier erinnerte, oder? Wozu sonst war ich überhaupt noch da, wenn nicht dafür. Ich sagte zuerst kein Wort, stand nur langsam auf und ging zu Kiras Grab hinüber, dem ersten hier oben. Kira. Ich ging weiter, als nächstes war Mizu hier begraben worden. Mizu. Soweit hatte Lyvianne es auch noch gewusst, nun kamen die anderen. Ich ging zum nächsten Grab, es wunderte mich, dass Lyvianne sich nicht mehr daran erinnerte. Imiak. Das nächste war das Grab einer Fähe die noch vor mir zum Rudel gekommen, doch dann ermordet worden war. Tenebris. Zwei leere Gräber und ein gefülltes waren die nächsten, ich ging langsam an den dreien vorbei, eine schreckliche Tragödie umgab auch diese Gräber. Nieke und die leeren Gräber ihrer verstorbenen Welpen. Das nächste war ein kleineres Grab, es schien niemand je zu besuchen. Alexia. Es folgte ein noch viel kleineres Grab, für einen sehr kleinen Wolf, zurückgelassen von seiner Mutter. Laylats namenloser Welpe. Das nächste und vorletzte Grab war das einer Fähe die schwanger gestorben war. Svoboda. Und dann das letzte war wieder eines, welches Lyvianne noch gewusst hatte, das frischeste der Reihe. Kiran. leicht war meine Stimme schneller geworden, mit jedem Grab, an dem ich vorbeigeschritten war, all diese Namen taten mir weh, als wäre ich persönlich für ihren Tod verantwortlich zu machen und entsprechend schmerzerfüllt sprach ich sie auch aus, leichtes Gefühl in meiner doch sonst eher neutralen Stimme.

Ich war mehr als nur überrascht, als Lyviannes Stimme ertönte und sie verzweifelt fragte ob wir noch wüssten wer hier oben lag. Rolf tat es, er zählte jeden einzelnen auf, während er die Gräber abschritt, während ich Lyvianne fast etwas fassungslos ansah. Was? Ich hatte einige der Toten hier auch vergessen, Alexia zum Beispiel, oder Laylats Welpen, aber ich konnte mir nicht vorstellen wie Lyvianne sie alle vergessen haben konnte, sie war doch immer so aufmerksam und mitfühlend. Ich drehte allerdings wieder den Kopf, als ich seine Stimme hörte, besorgt sah ich ihm beim gehen zu. Immerhin er wusste noch all ihre Namen, sein gedächtnis hatte ich tatsächlich noch nie bei so etwas im Stich gelassen.

Summend kletterte ich über die Steine und Kiesel, sprang vorsichtig und bedacht von einem Felsen zum nächsten. Die Luft wurde dünner, der Wind nahm zu und wirbelte mein weiches Fell durcheinander das deutlich länger und flauschige geworden war. Während ich konzentriert kletterte summte ich ein Lied. Es handelte von Bindung, Treue und Heimat und ließ meine Rute entspannt hin und her pendeln. Als ich oben angelangt war und das weiße Fell entdeckte, beruhigte sich das ziehen in meiner Brust. Ruhe kehrte zurück in meine Glieder und ein leises seufzen drang aus meiner Kehle. Was hatte diese Wölfin bloß mit mir gemacht, ich fühlte mich wie eine Schachfigur. Wie ein Läufer der über das Feld gezogen wurde, der keine andere Bestimmung hatte. Aber auf meinen Lefzen lag ein Grinsen, es störte mich nicht im gerinsten. Die zwei älteren Wölfe waren ebenfalls hier oben, der grauere hatte Schwierigkeiten mit Fremden also blieb ich einen Moment stehen um zu überlegen wie ich handeln sollte. Jetzt wo ich sie gesehen hatte war ich beruhigt und fragte mich ob ich stören würde. Die weichen dicken Ohren drehten sich hin und her, während ich still wie eine Statur am Rand abwartete.

Ich hielt am Ende der Gräberreihe an und atmete müde aus, alle Energie verließ wieder meinen Körper, gerade noch genug blieb zurück um leise zu Knurren, als ein weißer Rüde, den ich als Azzuan erkannte, zu uns auf den Gipfel gesellte. Er gehörte nun zum Rudel, aber ich kannte ihn nicht, ich kannte nur seinen Namen und wusste, dass Lyvianne ihn mochte. Ich trottete mit langsamen Schritten zu Mayestril zurück, als Lyvianne nichts mehr sagte, sondern nur noch fertiger aussah. Tut... tut mir leid.

Ich nahm Rolf gerne wieder bei mir in Empfang und lehnte mich leicht an ihn. Azzuan bemerkte ich nur dank Rolfs knurren, sein weißes Fell tartne ihn gut im Schnee und ich konnte ihn ja auch nicht riechen. Ich warf ihm ein kleines Lächeln zu, ehe ich wieder mitleidig zu Lyvianne sah, selbst wenn ich immer noch verwirrt über ihr Vergessen war. Du musst dich nicht entschuldigen Rolf, ich bin sicher unsere Toten freuen sich, dass du dich an sie erinnerst. Bist du okay Lyv?