Als der dunkle Jungwolf mir gegenüber gestand, keine Eltern mehr zu haben, rutschte mir meine ironische Bemerkung von vorhin nun mit aller Schwere in den Magen. Autsch. Damit bin ich definitiv auf die falsche Pfote getreten. Mein Sarkasmus bekam genau das zurück, was es verdient hatte. Und als wäre all das nicht genug, wurde meine große Klappe gleich mit peinlicher Stille bestraft. Ich biss mir unsanft auf die Zunge. „Wow…“ Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lefzen. „Nun ehm… damit hab’ ich die Stimmung dann wohl endgültig gekippt.“ Glücklicherweise wurde der Timberwolf gleich von einer weiteren Hungerattacke überrumpelt und erlöste mich und sich selbst von seinem verschollenen Blick ins Nichts. Ich ließ ihn noch ein wenig länger fressen. Und noch ein bisschen länger. Doch als ich dann dabei zusehen musste, wie er immer gieriger zu schlingen begann, setzte ich dem Ganzen ein Ende. „Okay okay, das reicht.“ Plötzlich stand ich auf, stellte mich über die Beute und setzte eindringlich eine Pfoten zwischen die Überreste. Wohl als eine Art Besitzanspruch. „Gier tut dir nicht gut.“
Acht Tage? Ungläubig blinzelte ich ihn an. Himmel, er war ja schlimmer dran als ich. Was hat er denn die ganze Zeit über gemacht? Sich in einer Höhle abgekapselt? Acht Tage… Man würde doch in dieser Zeit etwas Essbares finden können – oder jagen können. Ich war zwar auch nicht der beste Jäger, aber kranke, schwache und unaufmerksame Exemplare waren nun wirklich kein Phänomen, wenn man wusste, wo sich einige Herden und Scharen herumtrieben. Gut, man fand nicht immer was – es war vielleicht nicht ganz so einfach, wie es klang. Vor allem auch wegen irgendwelchen Rudeln, die hier gut belebtes Gebiet besetzten. Aber… acht Tage?! Und so jung wie er war, konnte seine Familie auch nicht weit sein. Was war mit denen? Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Wow. Deine Mutter leistet ja tolle Arbeit, sich um dich zu kümmern.” Ich hob die Augenbrauen, um den Sarkasmus zu unterstreichen. „Hättest dir echt eine bessere Familie aussuchen können, Kumpel.“
Mein Blick folgte ihm, als er zu mir herübertorkelte. Und je näher er kam, desto auffallender wurde die Schwäche, die Ohnmacht, die von seiner Statur ausging. Zugegeben, ich sah auch nicht gerade wie der kräftigste Wolf aus. Aber ich machte zumindest den Eindruck, auf den hohen Beinen einem Reh − oder zumindest einem Hasen − hinterherjagen zu können. Doch selbst diese Kraft schien sein Körper nicht mehr zu haben. „Ja ja, geht schon klar“, beschwichtigte ich ihn ungeduldig. Ich hatte nun wirklich keinerlei Lust, mir irgendein Dankesgeschwätz anzutun. Ich musterte ihn. Wie er sich über das Fleisch hermachte, es verschlang, als gäbe es kein Ende. Grundgütiger, da verging einem ja der Appetit. „Beim Himmel, hol doch erst einmal Luft“, versuchte ich ihn in seinem Schlingen ein wenig zu bremsen. Zumindest so viel Würde könnte er doch noch aufbringen. „Wie lange hast du denn bitte nichts mehr gegessen?“
Bingo – da war es. Die flehenden Bitten und bettelnden Augen. Früher oder später fand man sich nach einem Hungermarathon an genau diesem niederträchtigen Punkt wieder, für den man sich im Nachhinein abgründig hasste und sich dafür verabscheute, nicht resistenter gewesen zu sein. Und deshalb lässt man es gar nicht erst dazu kommen und nimmt sich alles, was sich auf dem Weg mitgehen lässt. Egal, ob man wirklich Hunger hat oder nicht. Egal, ob es alt ist oder nicht schmeckt. Da musste der junge schwarze Wolf wohl noch einiges lernen. Zumindest war er gut im Betteln. Sehr gut sogar. Erbärmlich gut. Keine Faser meines Seins hätte mich jemals dazu bringen können, mich so elendig schwach zu präsentieren wie er. Selbst wenn noch so starke Krämpfe mich schikaniert hätten. Lieber starb ich. Ich konnte nicht sagen, ob der fremde Wolf simulierte oder nicht. Wenn ja, war er wirklich überzeugend – und es wäre schrecklich beschämend für ihn, sich und seine Würde so herunterzustufen. Wenn nicht, dann… musste er gerade wirklich – wirklich – scheußliche Schmerzen erleiden. Vielleicht schlimmer, als ich es jemals am eigenen Leib erfahren hatte.
Mit seinem vor Schmerzen gequälten Gesicht verzog sich auch meins. Wie konnte man es zu so etwas überhaupt kommen lassen? Erst jetzt bemerkte ich, wie sich der Wolf nur noch dürftig auf den Pfoten hielt. Was mir jetzt fehlte, war, dass er mir hier noch zusammenbrach… oder schlimmer. Ach, verdammt. „Schon gut, schon gut“, unterbrach ich sein Winseln. Ich schloss die Augen und seufzte, als hätte er meinem Schädel Schmerzen bereitet. „Du musst mir jetzt nicht die Ohren vollheulen. Das Letzte, was ich brauche, ist ein Jammerhäschen.“ Ich schaute wieder auf und nickte ihn zu mir. Als Einladung, sich etwas nehmen zu dürfen. Natürlich nicht gerade mit dem größten Vergnügen. Aber besser, als das Leben eines kümmerlichen Wolfs auf dem Gewissen zu haben…
Ich hatte nicht wirklich den Glauben daran, den Fremden damit abwimmeln zu können. Er schien wahrlich dem garstigen Hunger zum Opfer gefallen zu sein. Solchen Hunger kannte ich nur allzu gut. So einfach ließ er einen nicht abwimmeln. Zu meinem Erstaunen jedoch, versuchte der schwarze Wolf es gar nicht erst, mir mit flehenden Bitten und bettelnden Augen zu kommen. Sondern mich auf das Reh aufmerksam zu machen. Mein Blick fiel zurück auf die Beute. Stimmt. Er hatte recht. Das Reh sah alles andere als frisch gefangen aus. Eher abgewetzt und ausgefranst. Die rotbraune Färbung musste der Witterung schon vor langer Zeit zum Opfer gefallen sein. Die besten Stücke wurden längst gerissen. Und außerdem sah es aus, als hätte sich bereits eine ganze Horde, ein ganzes Rudel, darüber hergemacht. Und daraufhin Streuner. Und dann Krähen. „Oh... ja ehm...” Ich schnalzte mit der Zunge. „Nun, dann trügt wohl der Schein...” Nicht wissend, was ich sonst sagen sollte, riss ich mir ein weiteres kleines, zähes Stück der Beute ab und begann einfach wieder stumm und unbeholfen zu kauen.
Zugegeben, es war wirklich nicht das beste Fleisch. Stumpf und verdorrt. Es schmeckte eher nach der Erde, auf der es lag, und wirklich gut kauen ließ es sich nicht mehr. Aber… es gab schon Schlimmeres. Ich genoss gerade (oder genoss eben nicht) den zähen Brocken der wirklich mehligen Beute, als eine Stimme mich aufhorchen ließ. Mein Blick folgte ihr und empfing sogleich einen – ich denke mal – recht jungen Wolf. Pechschwarz, als hätte der Schatten der Welt bei seinem ersten Atemzug erleichtert aufgeseufzt und in seinem Fell ein neues Heim gefunden. Kritisch hob ich die Augenbrauen. Musste bei seiner Frage aber gleich belustigt schnauben. „Hör mal.“ Ich schluckte den Bissen herunter und legte schmunzelnd den Kopf schief. „Ich weiß ja nicht, wo du herkommst, aber hier jagt sich jeder sein eigenes Zeug.“ In welch bezaubernder Welt dieser Jungwolf doch lebte, wenn er wirklich dachte, man könne sich überall getrost ein Scheibchen mitnehmen. „Das gute Stück hier ist frisch gefangen. Und es war nicht einfach, glaub mir.“ Gut, vielleicht habe ich ein wenig geflunkert. Oder vielleicht ein bisschen mehr. Spielte auch keine Rolle. Dieser Fremdling würde ohnehin nichts abbekommen.
Nachdem ich mich selbst dabei ertappt hatte, wie ein absoluter Idiot ins Nichts gestarrt zu haben, um irgendwelche verschwenderischen Gedanken ausklingen zu lassen, hatten sich meine Pfoten endlich dazu gedrungen, mich fortzutragen. Irgendwo tiefer in den Wald hinein – jedoch nicht wirklich verratend, wohin genau. Ich fühlte mich seltsam. Eigentlich sollte ich froh sein. Erleichtert. Doch kaum hatte ich das erfrischende Aroma tiefster Erleichterung erfahren, begann es schnell zu schmecken wie ein Gefühl der… ich weiß nicht, Schuld? Dieses Wort passte nicht zu mir, deshalb mochte es wohl kaum das sein, was mich hier – absolut grundlos – zwickte. Aber es war wohl etwas Ähnliches – und das gefiel mir nicht. Überhaupt nicht. Ein Ast knackte unter meinen Pfoten und ich blieb stehen. Wohin ging ich eigentlich? Ich hatte nicht einmal gemerkt, welche Wege ich genommen hatte. Bei all den Gedanken, die mich benebelten, schien ich wie ein Irrlicht durchs Geäst zu wandeln. Mein Gott, reiß dich mal zusammen. Durchatmen, schütteln – kurz mal wieder zurück auf den Boden kommen. Das war ja erbärmlich. Vielleicht war Edmes Gefühlswirrwarr ja ansteckend gewesen. Ich gab ein Schnauben von mir. Konnte jedoch selbst nicht genau sagen, ob es ein belächelndes oder frustriertes sein sollte. Ohnehin fing gerade etwas – für einen Bruchteil der Sekunde – meine Aufmerksamkeit ein, zwischen den betrübt hängenden Ästen, und beim zweiten Blick glaubte ich, etwas fahl Bräunliches hindurchschimmern zu sehen. Ist das… Ich schritt näher heran – und tatsächlich. Hinter hohem Gras, eher verkümmert und unbemerkt bleiben wollend, lag ein Reh. Zumindest die Rückstände dessen. Längst mürbe, abgewetzt, mit mehr Knochen als Fleisch und eigentlich kaum noch als solches erkennbar. Aber essbar. Mein Magen murrte als Antwort, als Zustimmung. Oder sogar Aufforderung. Und obwohl ich mir ungern sagen ließ, was ich zu tun hatte, machte ich meinem Hunger gegenüber gerne eine Ausnahme.
Edmes weiche Stimme holte meinen verloren gegangenen Blick wieder ein. Fort vom Wald und zurück zu dem viel zu lieben Lächeln, das auf mich einsprach. Ich blinzelte. Mehrmals hintereinander. Um auch die letzte graue Kammer meines Hirns endlich begreifen zu lassen, was Edme dort eigentlich sagte. Sie ließ mich gehen. Tatsächlich. Ohne weiteren gefühligen Schnickschnack. Ohne mir weiter ihr ach so süßes Herz auszuschütten. Ohne in mir ein wirklich beschämendes Mitleid auszulösen, das sich bloß schonungslos weitergesponnen hätte. Edme erlöste mich von ihrer emotionalen Wolke und obwohl ich wusste, wie schwer ihr die Worte vorhin gefallen waren, überfiel mich sogleich eine enorme Erleichterung. Eine Erleichterung darüber, ihre Gefühle nun losgeworden zu sein. War das rücksichtslos von mir? Nicht, dass ich mich um so etwas scherte, aber… Sollte ich mich schlecht fühlen? Dafür, dass mein verbohrter Egoismus weder Platz noch Verständnis für ihre Gefühle fand? Dafür, dass ich erleichtert darüber war, ihr nicht weiter zuhören zu müssen? Wie gesagt: Nicht, dass ich mich darum scherte, aber… sollte ich? Ich will dich nicht aufhalten… Ein Überbleibsel ihrer sachten Worte verhallte gerade zwischen meinen Gedankengängen. Gut, sie schien gemerkt zu haben, dass sie ein Stein, ein Brocken, ein Fels mitten auf meinem Weg war. Doch… wollte ich das? Wenn ich einmal ehrlich – wirklich ehrlich – zu mir selbst war, war es je meine Absicht gewesen, sie spüren zu lassen, nichts weiter als eine Blockade zu sein? Jemand, der einfach im Weg stand. Als wäre sie eine Last. Ich meine, klar, das war sie ja auch, aber… Eine kühle Nase berührte plötzlich meine Flanke und ließ einen Muskel erschrocken aufzucken. Erst jetzt holte es mich in die kahle Realität zurück, dass Edme längst nicht mehr vor mir stand; der graue Blick, das sanfte Lächeln verschwunden waren. Ich wirbelte herum, sah sie bereits mit einem (für Edme wohl unverzichtbaren) wohlwollenden fürsorglichen Abschied davontraben. Und mich allein lassend. In Ruhe lassend. Was ich ja wollte… Wieso nur fühlte ich mich dann, als hätte ich etwas unerledigt – unerklärt und leer – gelassen?
Bei ihrer zaghaften Frage nickte ich beschwichtigend. „Klar…“, versprach ich – insgeheim eigentlich gar nicht so ehrlich, wie ich tat. Was immer du hören willst. Damit hatte ich zumindest gehofft, die Sache nun auf sich beruhen und abhaken zu können. Aber natürlich durfte ein wenig mehr Gefühlspalaver nie fehlen. Und ich war mir ein Mal mehr bewusst, wieso ich keinerlei Beziehungen (welcher Art auch immer) pflegte. Ich war also fürs Erste gezwungen, zuzuhören. Währenddessen zuckte allerdings etwas in mir zusammen, als Edme uns mal wieder “Freunde” nannte. Ich hatte mich an diese Bezeichnung noch immer nicht gewöhnt und die Tatsache, dass Edme und Posy mir – ausgerechnet mir – diese Rolle zuschrieben, klang falsch und prallte wie ein Fremdkörper gegen meine Ohren. Ich fand es damals bei unserem ersten Treffen in der Höhle bereits keine gute Idee, dass die zwei Sonnenscheinchen mir eine Freundschaft aufzudrängen versuchten, von der ich ohnehin wusste, dass sie in den Sand gesetzt werden würde. Besser gesagt, dass ich sie in den Sand setzen würde. Weil ich wohl einfach so gestrickt war. Am Vortag noch ein geradeso aushaltbarer Komplize und am nächsten Morgen längst von dannen. Nie wieder von mir hören lassend.
Zumindest schien Edme es akzeptiert zu haben, dass man mich nicht zum Rudelwolf konvertieren konnte. Aber wohl nicht, dass ich mich generell nicht gerne an irgendwen band. Ihre Bitte, dass ich nicht im Revier bleiben und mich auch nicht unbedingt dem Rudel anschließen musste, aber sie mich trotzdem irgendwie hier haben wollte, war mir also gleich ein lästiger Dorn im Auge. In Erwartung darauf, was diesem zierlichen, unschuldigen Köpfchen noch so alles vorschwebte, erwischte ich mich dabei, wie ich sie zu mustern begann. Und kurzzeitig schweifte ich vermutlich auch ein wenig von dem ab, was sie sagte. Ich glaube, ich schien erst jetzt wahrlich zu bemerken, wie aufreibend das alles für Edme eigentlich war. Es schien ihr ehrlich nahezugehen und allein der Umstand, dass sie mich tatsächlich gesucht hatte, mir nachgejagt war, in Tränen ausgebrochen ist, schrie bereits danach, wie sehr ihr Herz daran hing. An Freundschaft und all dem Zeugs. Aber auch, wie schrecklich emotional und anhänglich sie eigentlich war. Sie dürstete förmlich nach Bindung. Es fiel mir schwer, sie und ihr kleines gefühlsbetontes Leben nicht zu bedauern. Und war gleichzeitig ungemein froh, niemals das fühlen zu würden, was sie fühlte und durchmachte.
Ich seufzte. „Schon gut“, beschwichtigte ich und nahm ihren Blick auf. „Ich verstehe.“ Tat ich nicht; zumindest nicht auf emotionaler Ebene, nicht so tiefgreifend wie sie. Aber ich wollte diese ganze Dramatik, diese feinen Tränchen endlich verdorren lassen. Das alles wurde sogar mir gegenüber ja schon peinlich. „Ich werde nicht gehen, okay?“ Ich löste meine Augen von ihren. Was sollte das werden? Ein Schauspiel? Wieder ein falsches Versprechen? Ein Setzling kommender Enttäuschung, den ich hier säte? „Ich werde mich, wie du schon sagst, nirgends anschließen. Und sesshaft werden, es mir hier gemütlich machen, werde ich mit Sicherheit auch nicht. Aber…“ Ich biss mir streng auf die Zunge, sichtlich mit mir selbst ringend. „Ich kann ja mal regelmäßig – ab und zu – vorbeischauen, oder so.“ Mein Blick wandte sich wieder Edme zu. „Hallo sagen, über… Dinge reden. Was man als… ähm, Freunde halt so macht.“ Ich musste – mich selbst betrügend – feststellen, dass dieses ganze Gefasel von mir gar nicht mehr so ein Gefasel war. Nicht gänzlich. Ich wünschte wirklich, ich hätte aus tiefstem Herzen gelogen, aber ganz ehrlich: Selbst das konnte ich ihr nicht antun. Und, ich meine, wenn ich ohnehin vorhatte, ab und zu herzukommen, mich einzuschleichen, um Überreste oder Beute zu stehlen, konnte ich doch vielleicht – vielleicht – auch kurz Hallo sagen. Im besten Fall ersparte mir das beim nächsten Mal, eine weitere übergebraten zu bekommen. Mein Blick führte unbewusst an Edme vorbei, hin zum zischelnden Wald. Versuchte ich gerade, mich vor mir selbst zu rechtfertigen? Definitiv. Und definitiv sah ich mir auch bereits dabei zu, wie ich diese Entscheidung bereute.
Natürlich sah sie mich. Ich hätte doch wirklich angefangen, an mir selbst zu zweifeln, wenn ich gedacht hätte, ich könnte jetzt noch abhauen. Ich schloss die Augen, atmete kurz tief durch und konnte förmlich sehen, wie mir das Schicksal süffisant ins Gesicht grinste. Danke, dass du mir das Leben schwer machst, dachte ich noch und sah beim nächsten Aufsehen bereits dabei zu, wie sich dieses gräuliche Bündel von dem Baum löste, auf mich zurobbte, vor mir niederfiel und… Tränchen kullern ließ. Völlig perplex blinzelte ich sie an. Was zum… Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, oder tun sollte. Oder überhaupt denken sollte. War irgendetwas passiert? Hatte ich etwas verpasst? Für mich sah diese ganze Szenerie schon fast so aus, als hätte irgendwer Edmes Herz gebrochen und zermalmt. Und dieses zerrüttete Herz suchte jetzt einen Dämpfer für ein unsagbares Gefühlschaos. Bei mir. Ich war überfordert. Und bei Weitem nicht der Richtige dafür. Selbst wenn ich den Seelensorger hätte spielen wollen, hätte ich nicht gewusst, wie.
Derart unbeholfen in dieser Situation, bemerkte ich nicht einmal vollen Bewusstseins, wie sich der zarte Körper bereits an meine Brust schmiegte. Naja, zumindest bis mir eine übergebraten wurde. „Au-“, grummelte ich empört, wurde aber gleich von unzähligen Vorwürfen niedergetrampelt. Ich konnte kaum glauben, was mir dort zugeworfen wurde und musste noch verwirrter realisieren, dass ich derjenige war, der für dieses Gefühlschaos die Schuld trug. Sprachlos war ich nun noch überforderter als zuvor. Und wieder überkam mich der spöttische Drang, mich selbst auslachen zu wollen. In was bist du hier nur hineingeraten? In viel zu vieles anscheinend, begriff ich, als Edme nun entschieden, vielleicht auch erwartungsvoll einer Antwort entgegensah.
„Okay, uhm… lass uns vielleicht erst einmal durchatmen, ja?“, begann ich und trat einen halben Schritt zurück, um zunächst etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Vermutlich auch, um eine Sekunde länger überlegen zu können, was ich jetzt tun sollte. Und wie ich diesen Ballast von mir herunterbekam, ohne noch eine verpasst zu bekommen. „Wer sagt denn überhaupt, dass ich vorhatte, für immer zu gehen?“, versuchte ich sie zu beruhigen und wusste selbst noch nicht, in welche Richtung dieses Lügengeflecht gehen sollte. „Ich habe mich ja nicht einmal verabschiedet. Ich hätte doch wohl wenigstens Tschüss gesagt, wenn ich wirklich hätte gehen wollen, oder?“ Nein, anscheinend ja nicht. Das hier war das jüngste Beispiel für genau das Gegenteil. „Ich brauchte nur etwas… frische Luft.“ Bedeutungsvoll fing ich ihren Blick auf. „Ein wenig Raum zum Atmen, nachdem es auf dem Rudelplatz so voll geworden war. Das verstehst du doch?“ Schwachsinn. Absoluter Schwachsinn, den ich hier von mir gab. Aber ich musste ja nicht mich überzeugen, sondern Edme.
Gut möglich, dass ich mir auf dem Weg raus aus dem Revier den ein oder anderen Umweg erlaubt hatte. Wenn man schon in ein Rudelgebiet eingeladen wird, wäre es doch wirklich viel zu schade gewesen, es so ignorant unerkundet zu lassen. Beute oder Fleischreste hatte ich unterwegs zwar nicht gefunden, doch das machte nichts. Dafür hatte ich nun einen kleinen Einblick über zwei, drei gute Ecken und einige der eher seltener betretenen Pfade durchs Territorium, die mich durchaus mit dem Gedanken spielen ließen, wiederzukommen. Eventuell. Nur um vielleicht etwas Beute oder ein paar Überreste abzuknöpfen. Um dann zügig wieder in unbekannte Wälder zu verschwinden, ohne auch nur irgendjemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Wie jetzt zum Beispiel. Hier in diesem viel zu ruhigen, aber zumindest einsamen Wald. Doch wenn ich wirklich gedacht hatte, bei meinem Verschwinden niemandem aufgefallen zu sein, war ich anscheinend doch mit mehr Optimismus ausgezeichnet als gedacht. Meine Ohren zuckten überrascht auf, als ein Ruf durch die Baumgruppen hallte. Gleich darauf noch einer. Und… ein weiterer. Ich seufzte. Natürlich erkannte ich sie. Die Stimme, die dort so hörbar aufgewühlt meine Hoffnung auf Einsamkeit zersprengte. Ich versuchte, einfach weiterzugehen – die Rufe zu ignorieren. Es würde schon aufhören. Sie würde es aufgeben – es sein lassen und mich irgendwann vergessen, wenn ich mich nur lang genug nicht blicken ließe. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Sie und Posy werden mich früher oder später aus den Augen verlieren. Das Nebelrudel hat sie nun unter die Fittiche genommen. Das wird sie ablenken. Ich glaube, ich hatte noch nie derart viele zuversichtliche Gedanken auf einmal. Und ich wünschte ehrlich, ich hätte sie mir erspart. Denn kurz darauf führten mich meine Pfoten – leider nicht ganz so lautlos wie erforderlich – durch ein enges Gestrüpp und siehe da, was sich mir präsentierte: Ein gräuliches Häufchen Elend, kümmerlich unter einem der Bäume kauernd. Beinahe hätte ich aufgelacht. Wegen mir und meiner ach so unbesorgten Zuversicht. So schnell verflog also dieser tolle Plan mit dem „Vergessen“ und „nicht blicken lassen“.
Zugegebenermaßen wurde mir all dies ein wenig zu privat. Ehrlich, so viel Internes wollte ich über irgendein wildfremdes Rudel gar nicht erfahren und es verursachte mir bereits einen dicken Brummschädel, all dem bloß zuzuhören. Zumindest erinnerte es mich an einen weiteren Grund, wieso ich mir das Rudelleben schön vom Leib hielt: zu viel Drama, zu viel Mühsal. Und im Grunde zu viel von allem, was irgendein Sozialsein voraussetzte. Ich entzog mich der Situation zur geeigneten Zeit und hoffte, dass die beschäftigte, viel um die Ohren habende Sphäre gut genug von mir und meinem Verschwinden ablenkte.
Man musste schon zugeben: Das Gebiet, in das uns dieser Cupo geführt hatte, war nicht... schlecht. Angenehme Ruhe und gemütliche Harmonie setzten mit einem Mal ein, als wir die markierte Rudelgrenze passierten. Oder auch nicht. Denn im Nachhinein wusste ich nicht mehr so recht, ob es von der Geräuschkulisse her tatsächlich so viel anders war, als im freien Land davor. Oder ob mir viel eher die neuartige Atmosphäre des Territoriums das Gespinst vorgaukelte, wie in einer abgeschotteten Welt zu sein. Dem kam es nämlich schon ziemlich nahe. Hagere Sonnenstrahlen stachen durch das Blätterdach, schienen die charmantesten Fleckchen des Waldes zu betonen – und sobald sich der Blick hob, konnte man fast schon träumend beobachten, wie hohe Bäume sich bei jedem dezenten Hauch flüsternd an den Kronen kitzelten. Genauso wie der Geruch reichlicher Beute an meiner Nase kitzelte. Nicht, dass ich bereits drauf und dran gewesen wäre, es mir hier gleich häuslich einzurichten. Die unsichtbaren, freiheitseinschränkenden Felswände waren für meine Streunerseele noch immer deutlich spürbar und ein arger Kloß im Magen. Trotz schönen Reviers, konnte es eben nicht von derselben Unabhängigkeit sprechen, die ich im Niemandsland ausschöpfen durfte. Und diese war unentbehrlich.
Teilnahmslos und eher befremdlich sah ich dabei zu, wie Cupo bei unserer Ankunft am scheinbaren Rudelplatz etwas holprig sein Gejaule in der Luft verhallen ließ. Hörte sich eher danach an, als würde er mühselig seine Stimmbänder freibekommen wollen. Wahrscheinlicher war aber wohl, dass er seine Rudelkumpanen herbeizurufen versuchte. Was ich persönlich nicht hoffen wollte. Ich hatte eher weniger im Sinn, gleich einer ganzen Horde an Rudelanhängern zu begegnen. Im Grunde hatte ich mich bloß etwas im Revier umsehen wollen. @Edme und @Posy hingegen würden vermutlich jeden der Fremden prompt zu ihren Freunden machen wollen – mit wedelnder Rute und quiekendem Entzücken. Bis dahin wollte ich nicht einmal denken. Ich ließ meinen Blick hinauf zu den emporragenden Baumwipfeln treiben. „Gemütlich“ , meinte ich nach Cupos anfangs stolperndem Heulen, wusste jedoch selbst nicht recht, ob ich dabei einen unernsten Ton mitschwingen lassen wollte. Normalerweise wäre das für meine Verhältnisse wohl absolut üblich gewesen. Doch irgendwie war das Territorium dieser Nebelwölfe tatsächlich zusagender, als gedacht, und wohlig fühlte man sich allemal – wenn man es nicht ausgerechnet als Rudelgebiet betrachtete.
Edmes Freude – von der sie wirklich eine Menge hatte – ließ ich meinerseits ungeteilt und schleppte mich hinter Cupo voran zum Höhlenausgang. Um die beiden Herzensfreundinnen dahinten musste man sich sicher keine Gedanken machen, dass sie nicht mitkamen. Die klebten ja förmlich an der Idee eines Rudels. Während mein Kopf noch immer in der Hoffnung schwelgte, dass sich der anstehende Weg nicht als zu anstrengend herausstellte.
Verzeihung, sprach ich in Verschlüsselungen? Eigentlich hatte ich geglaubt, dass "Nicht zu sehr auf die Pelle rücken" so etwas bedeutete, reichliche Menge an Distanz zu halten und vor allem nicht lästig zu werden. In den Ohren von Edme und Posy schien dies wohl fremd. Das muss jetzt echt nicht sein, dachte ich bedrängt und war umso erleichterter, dass alles Augenmerk zu Cupo und seinem plötzlichen Panikanfall schwenkte. Meine Ohren zuckten verblüfft. So mies bin ich nicht einmal dran. Mich überkam der Drang, jemandem einen belustigten Blick zuzuwerfen. Berührungsängste – woran erinnerte mich das wohl. Doch fiel mir auf, dass keiner der Wölfe den anspielenden Witz dahinter verstehen würde. Mija hätte es. Stattdessen war mein vergnügtes Schmunzeln nichts als eine kontextlose Geste.
„Du würdest uns ernsthaft in euer Revier bringen?“ Ich war ehrlich überrascht, auch wenn mein Ton mehr Skepsis als Verblüffung hören ließ. Weil er es von Natur aus tat. Dass Edme gleich fröhlich zustimmte, war beinahe schon traurig. Wie konnte man bloß derart verzweifelt sein. Geblendet von der Sehnsucht nach einem Rudel. Als gäbe es ohne dieses kein Leben. Erst der Wunsch nach Freundschaft, dann das Sehnen nach einem Rudel – sie hatte wahrhaftig irgendwelche Angstkomplexe. Monophobie oder was weiß ich. Und Posy wollte scheinbar nicht anders sein, als auch sie nicht zögerte, um mit ebenso enormer Freude zu reagieren. Ich musste mich ehrlich zurückdrängen, nicht gleich etwas hochzuwürgen. Peinlich, wie einem ein unabhängiges Leben derart egal sein konnte. Man konnte auch gut ein Leben ohne Rudel führen. Aber ein Rudel erleichtert es..., hallten mir allzu bekannte Worte in den Kopf. Oh nein. Auf gar keinen Fall. Das Letzte, was ich brauchte, war eine Vergangenheit, die mich in die Irre führen wollte. Das eine Mal in einem Rudel sollte auch das erste und letzte Mal bleiben. Damals war es eine Zwangslage gewesen, eine kleine Stütze, um den unbarmherzigen Winter über auf den Pfoten zu bleiben. Zugegeben, es war einfacher gewesen, den Schnee des Winters zu genießen, statt ihn als Qual anzusehen. Doch selbst das hatte mich nicht weiter halten wollen. Ein Rudel war kein Leben für mich. In einer Hierarchie festzustecken, auf jemanden hören, der nicht du selbst bist. Und von Artgenossen, die ich nicht leiden kann, mit denen ich jedoch trotzdem denselben Boden teilen muss, brauchte ich erst gar nicht anzufangen. Ich wollte nie wieder einem Rudel angehören, einerlei für wie lange. Sei es nur für einen Mond. Sei es für einen Tag. Aber vielleicht musste ich das auch gar nicht. Posys überredende Erzählungen drangen intensiver an meine Ohren, als mir vermutlich lieb war. Ihre Worte von Wiesen und Wäldern, unentdecktem Boden; und als wäre das nicht genug, mischte sich auch gleich Cupos vorige Erzählung in meinen Kopf – vom dichten Nebel, der alles in ihrem Gebiet so wundervoll verhüllte. Sich ein Revier anzuschauen, heißt schließlich noch lange nicht, direkt dazuzugehören.
„Wie oft hat man schon die Chance, von einem Rudel eingeladen zu werden.“ Stimmt – und wie oft hat man schon die Chance, Schlupflöcher in einem Revier ausfindig machen zu dürfen. Ecken und Nischen, die vielleicht nicht allzu regelmäßig patrouilliert werden. Ecken und Nischen, die einen im dichten Nebel hervorragend verdeckt hielten. Ecken und Nischen, die missachtete Beute erhaschen ließen. Meine Pfoten kribbelten aufgeregt. Doch diese Aufregung war definitiv anders, als die die in den beiden Wölfinnen perlte. „Wenn's sein muss“, ich zuckte mit den Schultern, als wäre es mir einerlei. Ja, ich würde mitkommen. Nur um die Sache mit dem Bleiben stand es wohl etwas anders. Zumindest ein kleines Bild vom Nebelgebiet würde ich mir machen; schauen, wo sich ein Stück Pelz wie ich am ehesten unentdeckt aufhalten konnte. Je nachdem wie die Beute war, natürlich. Meistens war diese auf Rudelerde schließlich besser als im konkurrierenden Niemandsland. Eine gewisse Ironie war es schon. Ich würde es hinnehmen, in ein Territorium einzudringen und mit etwas Pech den Groll eines Rudels auf mich zu hetzen, aber selbst dazuzugehören und mir all den Ärger zu sparen, würde ich nie. Das war es mir einfach nicht wert. „Ich hoffe, es ist kein weiter Weg bis zu deinem Rudel.“ Nicht, dass ich jammern wollte, aber bei dem Gedanken an eine lange Wanderung wollten meine Pfoten schon jetzt lieber Rast machen.
Ich stutzte bei Edmes Entschuldigung und zog verwundert die Augenbrauen hoch. Ich empfand das keinesfalls als Verlust. Im Gegenteil, es kam mir und meinem unabhängigen Leben nur zugute. Wenn ich mir vorstellte, jemanden die gesamte Zeit über im Schlepptau zu haben, während meine Pfoten mit Stehlen fremder Beute beschäftigt sind, konnte ich wunderbar darauf verzichten. Edme scheinbar weniger. Ich konnte mir denken, dass sie bedeutsamen Wert auf enge Bekanntschaften legte, aber dass sie derart beständig darauf beharrte, einem Fremden zu untermauern, welch zuversichtliche Wirkung Freundschaften entfalten können, erstaunte mich durchaus. Haben ihr Freundschaften so sehr das Hirn verkohlt? Und als hätte man mich nicht noch mehr in meiner Verwunderung haften lassen können, dachte Edme doch ernsthaft, mich mit aller Einfühlsamkeit wohlwollend anstupsen zu müssen. Wie eine Art Trostgeste – die ich nicht einmal brauchte. „Himmel, dir sind Freundschaften ja echt wichtig.“ Vielleicht ein Stückchen zu sehr. Ich zog die Schnauze etwas weg. Ich brauchte weder Trost, noch Bedauern. Nur, weil ich keine Freunde hatte und wollte. Dass Posy auch gleich munter zustimmte, war beinahe schon vorherzusehen. Nur ihre letzte Anmerkung verblüffte mich innerlich. Unerwartet stellte ich die Ohren auf. Lockerer?, dachte ich wundernd und ließ ihren kumpelhaften Hieb unbewegt an mir abprallen. Ich- ich bin doch locker! Ich bin der lockerste Typ, den ich kenne. Bloß, weil ich keine engen Bekanntschaften gebrauchen konnte, hieß es doch nicht, dass ich verklemmt und trocken war. Ich blieb nur gerne meiner Unabhängigkeit treu. Diesmal ließ ich diese allerdings tatsächlich kalt liegen. Allerdings bloß, um diesem viel zu wohlmeinenden Drängeln zu entkommen. „Bei Luna – wenn es euch glücklich macht...“, hörte ich mich trotz mattem Ton sagen, auch wenn mir die beiden ein Stück zu weit darauf beharrten, mir unbedingt eine Freundschaft aufzudrängen. „Solange ihr mir nicht allzu sehr auf die Pelle rückt.“ Es war schließlich schon bitter genug, dass ich doch tatsächlich bemitleidet wurde. Ich war der Letzte, der so etwas brauchte. „Nur um die Sache klarzustellen: Ich mag Alleinsein.“ Und genau das wäre mir im Moment auch sogar lieber gewesen.
Dass die Aufmerksamkeit der anderen wieder zu Cupos allzu liebem Nebelrudel schwenkte, war mir nur recht. Mein Interesse für irgendwelche Rudel war genauso gering wie das, welches ich für Bekanntschaften pflegte. Und doch konnte ich meine Ohren nicht davon abhalten, ein wenig mitzuhören. Cupos Erzählung über sein Rudel war wirklich detailliert und ich fragte mich, ob er sich bewusst war, wieviel er gerade ans Licht brachte. Nun gut, im Grunde ist er bloß auf Posys Fragen eingegangen, doch hätte ich nicht erwartet, dass ein Rudelwolf tatsächlich derart offen und recht ausführlich über sein Territorium sprach. Meine Gedanken blieben in erster Linie besonders an der Betonung des dichten Nebels hängen. Einen Wolf würde man also auch nicht so schnell sehen können, schloss ich daraus, natürlich nicht völlig ohne Hintergedanken. Edme sprach mich erneut an und diese verborgene Absicht verflog für einen Moment. „Ich brauche sie einfach nicht. Ich bin immer gut ohne Freunde klargekommen. Wieso sollte ich das jetzt also ändern?“, fragte ich schulterzuckend, erwartete jedoch keine Antwort. „Ich-“...finde Freundschaften nutzlos und nichts als belastend, dachte ich meinen Satz zuende, schluckte ihn jedoch sogleich hinunter als mein Blick Edmes graue Augen fand. Wow, ich brachte es echt nicht übers Herz. Jeder hatte nun mal seine eigenen Ansichten, was Freundschaften anbelangte. Und ihre waren eben so viel anders als meine. So viel... positiver. Für sie schien es wohl eine Art Anker zu sein, ein Anker gegen Einsamkeit. Wieso sollte ich ihr dieses Bild nun schlechtreden. „Ich bin für so etwas einfach nicht gemacht“, endete ich stattdessen, als wäre es eine Grundwahrheit wie die Existenz von Sonne & Mond. Etwas, das fix war – das sich auch mit aller Glaubenskraft nicht ändern ließ.
Ich glaubte eine gewisse Zufriedenheit in Posys Stimme herauszuhören und selbst wenn ich es nicht getan hätte, konnte ich mir denken, dass diese da war. Und genau das machte die Lage bloß widriger für mich. Denn nun hatte ich tatsächlich irgendwelche Wölfe am Hals, die begnügt glaubten, einen neuen Freund gewonnen zu haben. Ich konnte regelrecht spüren, wie mein Diebesherz mich über alle Sterne auslachte. Wie konnte eine Situation bloß eine solch massive Wendung nehmen? Mein Ohr zuckte bei Posys frechem Flüstern. Dass die beiden mich nun als Grobian bezeichneten, fehlte mir gerade noch. „Das nehme ich jetzt persönlich“, murrte ich ernster als ich es in Wirklichkeit meinte. Zwei Wölfinnen wie diesen hier war ich noch nie begegnet. Derart entgegenkommend, beharrlich und gleichzeitig zutiefst nervtötend. Und doch musste ich zugeben, dass die beiden merklich ein Herz und eine Seele waren. Sie harmonierten gut zusammen, ergänzten sich wie Schwestern. Als wären sie einander nie fern gewesen. Nicht, dass ich dadurch Sympathie für Freundschaften ergatterte. Ich hing noch immer hartnäckig an meiner Meinung, dass ich solche Bindungen nicht brauchte und ohne sie mindestens ebenso gut dran war.
Ich konnte mir ein amüsiertes Schmunzeln durchaus nicht verkneifen, als Edme vergnügt gluckste. Angsthasen hatten also nicht nur gewissen Rückgrat, sondern auch Humor. Ich lauschte ihrem sowie Posys Versprechen und obwohl ich überraschend wenig an der Aufrichtigkeit ihrer Worte zweifelte, witterte ich, dass das keinesfalls gut enden konnte. Ich war einfach nicht der Typ für irgendwelche Relationen. So wie ich mich kannte, würde ich innerhalb kürzester Zeit entweder jemanden enttäuschen oder verraten. Aus Gründen, die ich im Moment noch nicht kannte, die aber zweifellos von Egoismus getrieben sein würden. Einfach, weil ich so war. Weil meine Sinne sich daran gewöhnt hatten. Ich konnte noch nicht sagen, ob mir diese mögliche Enttäuschung für die beiden wirklich leidtat. Größtenteils würde eben mein Wesen Schuld daran tragen, andererseits waren es Posy & Edme selbst gewesen, die unbedingt eine Freundschaft mit mir aufbauen wollten. Gewissermaßen haben sie selbst den Gang zu einer vermutlich unehrlichen Freundschaft geöffnet. Mit Verrat und Enttäuschung. Ich weiß, das hätten die beiden nicht verdient, doch konnte ich nicht versprechen, dass es nicht auf genau diese flaue Weise enden würde. Allerdings glaubte ich, die zwei Wölfinnen würden vermutlich schnell über mich hinwegkommen, sollte ich tatsächlich diesen scheinbaren Glanz der Freundschaft für die zwei ruinieren. Denn mich als 'Freund' zu haben; damit gewinnt man im Grunde nicht das Geringste – und verliert dementsprechend auch nichts. Man würde mich schneller vergessen als einen am Morgen verblassten Traumschimmer.
Mein Argwohn schwand nicht. Eher trugen Posys Worte dazu bei, dass sich meine Schnauze erst recht verschließen wollte und viel lieber nie wieder gesprochen hätte, als ihr nun meinen Namen zu verraten. Ihrem frechen Lächeln gegenüber begegnete ich bloß mit einem ungläubigen Blick. Nicht einmal ihr vermeintlich ehrlicher Meinungsumschwung konnte diese Unruhe in mir entknoten. Ich hielt mich mit meinem Namen noch immer zurück, unüberzeugt von Posys Versprechen. Wenn ich nicht darauf einging oder ein aus dem Nichts gegriffenes Thema anschnitt, hätte ich mich vielleicht aus der Situation herauswinden können. Doch war damit garantiert, dass mich diese übermotivierte, beige Wölfin auch in Ruhe ließ? Eher schien sie mir, als würde sie sich erst recht den Nerven anderer aufdrängen, sobald sie nicht die Antwort bekam, die sie zufriedenstellte. Und das so lange, bis sie ihren Willen durchsetzen konnte. Mein Inneres haderte mit sich selbst. Entweder würde mich Posy nerven oder... sie würde mich noch mehr nerven. Ich hatte die Wahl – doch danach fühlte es sich ganz und gar nicht an. In was habe ich mich hier bloß verstrickt? In irgendwelche Beziehungen, die ich überhaupt nicht im Auge hatte! Dabei wollte ich die Wölfe doch nur aus dieser bequemen Höhle vertreiben. Als Edme herbeirobbte, war ich sichtbar überrascht. Ich hätte niemals gedacht, dass sie mich beschimpfen würde. Und auch wenn meine Sturheit sich nicht wirklich von ihren Worten überzeugen lassen wollte, ahnte ich, dass die zwei mir einfach nicht meinen Frieden bewahren würden. Mir entfuhr ein hörbar unzufriedenes Seufzen. „Ich heiße Jabez“, murmelte ich schließlich knapp, verkniff es mir diesmal jedoch, zusätzlich meinen Spitznamen zu nennen. Vorsichtshalber hielt ich die Umstände auf einer möglichst distanzierten Ebene. Denn Freunde waren wir meiner Ansicht nach nicht. Da konnte mir Edme oder sonst wer gerne mehr Erkenntnis und Weisheit einreden. Es würde ungerührt an meinen Ohren abprallen. In solchen Fällen ließ sich meine einsame Verbissenheit ungerne etwas sagen.