Ich hatte aufgehört, die Tage zu zählen, denn es brachte mich ja doch nicht weiter. Ich hatte auch aufgehört, die schlaflosen Nächte zu zählen, denn sie häuften sich immer mehr. Meine Gedanken kreisten um einander und um alles, was passiert war. Knapp zwei Jahre hatte mein Leben im Tal stattgefunden, nun hatte ich es wieder verlassen. Ich wusste, dass ich wiederkehren würde, doch nun war meine Familie meine oberste Priorität. Ach, Akaya... Ja, Familie sagte ich so einfach, doch ich hatte meine Familie im Tal verlassen. Ich würde sie wahrscheinlich nie wieder sehen, außer Corvin. Mein Sohn hatte mir zwar verziehen, aber ich wusste, dass mein verhalten seine Spuren hinterließ.
Langsam, nach und nach, erspähte ich in der Ferne einige Baumgipfel, die mir so vertraut waren. Eifrig beschleunigte ich meine Schritte, schließlich rannte ich. Mit großen Sprüngen setzte ich meinen Weg fort. Ein tiefes, melodisches Heulen verließ meine Kehle. Es dauerte nicht lange, bis es sich mit anderen Klängen mischte und einige helle und dunkle Punkte die vor mir liegende Ebene fast schon fliegend in meine Richtung überquerten. Mit aufgeregt wedelnden Ruten und wildem Schnuppern begrüßte ich meine Geschwister. Ihre aufgeregten Stimmen bildeten ein undurchdringbares Gewirr. Sie bellten freudig durcheinander und rannten schließlich wieder heimwärts. Ich folgte ihnen und gemeinsam schossen wir über die weiße Ebene. Der Frost hatte alles in einen schillernden Mantel gehüllt und ich wurde, mit meinem silbernen Fell, ein Teil davon. Schließlich wurde ich langsamer, während meine Schwestern und Brüder auf unseren Rudelplatz stürmten. Langsam trabte ich ihnen hinterher. Da erblickte ich sie. Mutter! Berührt rieb ich meine Schnauze an ihrer. Ihr braunes Fell schmiegte sich weich an meines und endlich fühlte ich mich nach meiner langen Reise angekommen. Ich hab euch alle so vermisst!, bellte ich, als mein Vater sich zu uns gesellte, doch war er nicht alleine. Drei silberne Jungwölfe bildeten seine Nachhut. Sie mussten etwa in Corvins Alter sein. Neugierig beschnupperten sie mich, aber die Ähnlichkeit hätte kaum größer sein können. Einer der Kleinen sah mir in die Augen. Seine waren ebenso grün wie meine und ich lächelte friedlich. Wie sehr mir das alles gefehlt hat...! Langsam gesellte sich auch der Rest des Rudels zu meiner Familie und mir und begrüßte mich liebevoll. So eine ausgelassene Zusammenkunft hatte ich lange nicht mehr erlebt.
Erst als sich die Aufregung etwas gelegt hatte, begann ich von den vergangenen zwei Jahren zu erzählen. Ich erzählte von den Schattenwölfen, Akaya und unsere Jungen, von denen die meisten nie aus ihrem Schlaf aufgewacht waren und ich erzählte von meinem ganzen Stolz - Corvin.
Ich verharrte eine Weile bei meiner Familie und es war schön, zurück zu sein. Doch nach wie vor wusste ich, dass ich nicht mehr als ein Gast war. Ich würde hier nicht bleiben, so viel stand fest. Ich hatte im Tal ein Zuhause gefunden, auch wenn es ohne Akaya wohl nie wieder das Gleiche werden würde. Ich hatte die Chance auf Glück aber gewiss nicht hier. Ich war noch jung und würde die Vergangenheit überkommen können. Meine Schwester Mace verließ ich nur ungern. Sie war schon damals mein größter Rückhalt gewesen, als ich hier wirklich gelebt hatte. Als ich ihr vom Tal erzählte wiegelte sie ihren Kopf bloß hin und her und meinte, dass sie vielleicht mal zu Besuch kommen würde. Ich wusste es besser. Man besuchte das Tal nicht nur. Wenn man an diesen Ort kam, dann verlor man sich und verbrachte plötzlich sein Leben dort, doch ich sagte nichts und lächelte bloß.
Über eine Mondreise lang hatte ich bei meiner Familie verharrt. Nun musste ich wieder aufbrechen. Ich verabschiedete meine Geschwister und meine Eltern. Den ersten Teil des Weges begleitete Mace mich, wofür ich ihr dankbar war, jedoch machte es den Abschied nicht gerade leichter. Leb wohl, sagte ich schließlich zu ihr, so sehr es mich auch schmerzte, meine geliebte Schwester wieder zu verlassen. Von dem Tag an lief ich wieder schneller. Das Tal war jetzt wieder mein Ziel.